Oberammergau – An den stattlichen Fassaden die bunten Bilder, die man „Lüftlmalerei“ nennt, dazu die schmucken Gässchen, die urigen Gaststuben, dann die Berge hinter den Giebeln, allen voran der Kofel, das Wahrzeichen des Ortes: Oberammergau ist Bilderbuch-Oberbayern, das Touristen in Masse anzieht. Alle zehn Jahre verbindet sich die perfekte Kulisse mit einem einzigartigen Theater-Ereignis – wenn man denn die Passionsspiele überhaupt als „Theater“ bezeichnen mag oder kann.
Heuer finden sie wieder statt, außer der Reihe, schließlich werden seit 1680 die Passionsspiele eigentlich alle vollen zehn Jahre gespielt. Außer, es stehen dem schwerwiegende Ereignisse entgegen. So wie der Ausbruch der Corona-Pandemie im Winter 2020. Spielleiter Christian Stückl weinte, als er die Botschaft verkünden musste. Der Katastrophe folgt heuer die Wiederauferstehung. Und die Aufschrift auf den Stofftaschen, die im Merchandise-Shop verkauft werden, kündet davon: Passionsspiele Oberammergau mit der Jahreszahl, deren zweite Null gestrichen und durch eine „2“ ersetzt wurde. Ein Statement, in dem sich Erleichterung und Marketing-Witz mit Durchhaltevermögen und Stolz mischen. Eine Jahreszahl ist schließlich auch nur eine Zahl. Jedoch: Stückl und Oberammergau müssen die zwei Jahre Verzögerung gut genutzt haben. Denn die Passionsspiele 2022 sind schlicht und ergreifend großartig. Man kann das an Maßstäben des Theatralen erklären. An der Präzision etwa, mit der Christian Stückl die Menschenmengen bei den berühmten Oberammergauer Massenszenen choreografiert. An der Eindringlichkeit, die die beiden Jesus-Darsteller abwechselnd auf die Bühne bringen. Ich sah Frederick Mayet, der Jesus als Unbequemen spielt, aber nicht als Rebellen gegen den jüdischen Glauben, einen Mensch der radikalen Liebeslehre, nicht aber einen radikalen Aufrührer, einen melancholischen Menschen, der von Beginn des Spiels an um sein Ende weiß.
Christian Stückl hat auch weiter an der Geschichte gefeilt. Aus dem neuen Testament wird ein Politthriller. Es sind Rom und die Pharisäer, die am Vorabend des Pessachfestes um die Macht und Deutungshoheit ringen. Der Vorwurf, Jesus habe sich zum „König der Juden“ machen wollen, ist den Pharisäern ein Vorwand, Jesus anzuschwärzen, den Römern ein Anlass für demütigende Scherze, deren eigentlicher Adressat Kaiphas ist. Jesus ist ein Spielball politischer Ränkeschmiede. Vor allem ist und bleibt Jesus ein Jude, der die Gesetze respektiert – so lange sie den Menschen dienen.
Noch mal düsterer und farbenprächtiger sind die Lebenden Bilder des Stefan Hageneier, nochmals berührender und gewaltiger die Musik, die Markus Zwink offenbar immer weiter zum Cinemaskop-Gesamtergebnis voranschreibt. Es brucknert viel und wagnert ein wenig, es bleibt das Erstaunen, wie die Oberammergauer das mit so vielen Amateuren und so wenigen Profis auf die geräumige Bühne des Passionsspielhauses stemmen. Und wie gut der Chor seine Aufgabe löst: nicht passabel, sondern hervorragend. Die Musik ist nicht mehr Beiwerk, sie ist die Grundierung, auf der Stückl und Hageneier ihre Bilder verwirklichen. Sie ist Träger der Handlung. Es dämmert die Erkenntnis, dass die Oberammergauer mit Stückl, Hageneier und Zwink so etwas wie eine „goldene Generation“ erleben. Und doch sind diese Passionsspiele – ein Rätsel bleibt, warum die Ammergauer das Ganze maskulin „der Passion“ nennen – natürlich viel mehr als Theater oder Bühnenweihfestspiel. Sie sind wieder einmal Kristallisationspunkt, wieder einmal sinnstiftender Identitätskern der Gemeinde Oberammergau. Die Passionsspiele erzählen den zweiten Teil der Dorfwerdung Oberammergaus, lange nach der Gründung des Ortes im mitunter unwirtlichen Ammertal. Dieser zweite Teil beginnt 1633, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Seuchen entleeren das von den Kämpfen schwer getroffene Kurfürstentum Bayern. Schließlich gelang die Pest über die Berge nach Oberammergau. Ein Einheimischer, der sich im Loisachtal als Totengräber verdingt hat, ein gewisser Kaspar Schisler, soll sich, von Heimweh wie von ersten Symptomen gequält, auf versteckten Wegen an den Pestwachen vorbei zu seiner Familie geschlichen haben. Die Krankheit wütet in der Gemeinde, die schließlich ein Gelöbnis tut, einen Vertrag mit Gott, sozusagen. Nimm du die Seuche von uns, wir dagegen spielen alle zehn Jahre die Geschichte vom Leben und Leiden Jesu Christi. Es funktionierte, vom Moment des Gelübdes an sei niemand mehr gestorben, berichtet Ortschronist Daisenberger. Eine Erfolgsgeschichte nicht nur deswegen – es wurde zum Publikumsmagneten. Und Kaspar Schisler wurde eine Gasse gewidmet. Das Oberammergauer Spiel war damals eines von Hunderten im ganzen Alpenraum, der Text nicht einmal ein eigener Oberammergauer Text. Noch heute ist es nicht das einzige Passionsspiel. Aber es ist das mit Abstand berühmteste. Das mit Abstand größte, Heilsgeschichte mit Menschen und Tieren auf der Riesenbühne, ein Gemeinschaftsunternehmen: Von 5000 Einwohnern ist beinahe die Hälfte dabei, sei es als Musiker, als Spieler, als Einweiser, Handwerker, Schneider und, und, und. Diese Mitspieler und -macher opfern viel Zeit, sie bringen diese Opfer mit mehr Ernsthaftigkeit als es die schwindende Kirchengläubigkeit wohl vieler Beteiligter vermuten ließe. Vielleicht liegt es daran, dass Christian Stückl – wie so viele andere aus der Umgebung, wie ich selbst – Schüler des von Missbrauchsskandalen geschüttelten Klosters Ettal war. Womöglich trauen überhaupt viele Oberammergauer der etablierten Kirche nicht mehr: Sie predigt so viel, ohne zu verstehen. Christian Stückl ist überzeugter Katholik und glühender Bühnenmann, er hat in einem Künstlergespräch im Anbau des Richard Wagner-Museums in Bayreuth mal darüber gesprochen, wie ihn auch die theatralen Mittel speziell des Katholizismus geprägt haben. Es könnte sein, dass er im Laufe seines langen Theaterwirkens zum Schluss gekommen ist, dass man die Verkündigung der frohen Botschaft nicht mehr einem abgewirtschafteten Konzern überlassen sollte. Das könnte die Ernsthaftigkeit erklären, die er seit langem auf die Lektüre und Auslegung der Bibel verwendet, auf den Austausch mit Rabbinern, um antisemitische Stellen aus dem alten Text zu tilgen, auf die Reisen nach Israel, die er vor dem Passion mit Hauptdarstellern absolviert. Das Ergebnis ist ein wort- und bildmächtiges Gemälde, eine Erzählung des Neuen Testaments aus der Mitte einer Dorfgemeinschaft, nicht aus der Höhe einer klerikalen Chefetage. Es ist kein Drama aus der Mitte einer Volksgemeinschaft. Jesu Botschaft der Menschenbrüderschaft bildet sich in der Besetzungsliste ab. Schon seit der Passion 2000 spielen Muslime bei der Passion mit. Christian Stückls Stellvertreter ist Abdullah Kenan Karaca, ein Muslim, der den Nikodemus gibt. Cengiz Görür (er wechselt sich ab mit Martin Schuster) ist ein eindrucksvoller Judas, der sich mit einem Vermittlungsversuch fatal überschätzt. Und vor allem im Volk wirken geflüchtete Menschen etwa aus Afghanistan mit. Es zieht alle auf und vor die Bühne, die Reichen und Glücklichen wie die Mühseligen und Beladenen. Auch darin sind diese Passionsspiele zu Oberammergau eines der erstaunlichsten Ereignisse des Jahres 2022.