Schon die Ouvertüre ist hintersinnig: Cherubino liest Luhmanns „Liebe als Passion“. Ausgerechnet der junge Mann, der buchstäblich nichts anbrennen lässt und nicht zufällig als Prototyp des Don Giovanni interpretiert worden ist, ausgerechnet dieser liebestolle Jüngling liest des Soziologen Klassiker über die Erfindung der romantischen Liebe im Zeitalter der frühen Empfindsamkeit.
Die Sache hat Witz – also mehr als oberflächlichen Humor. Schon ab dem ersten Takt des „Figaro“ sehen wir auf eine Bühne, in der sich Komik und (seelische) Katastrophen, Tragisches und gelind Slapstickhaftes ein Stelldichein geben. Während die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Joana Mallwitz sich sehr kontrolliert und hurtig dem überbordenden Strudel des ausmusizierten „tollen Tags“ ergibt, lässt der Regisseur Jens-Daniel Herzog – nein, nicht die Puppen, sondern die Menschen tanzen, getreu dem Motto: Sag mir, was du liest, und ich sag Dir, wie Du Dich fühlst. Also liest die Gräfin Eva Illouz‘ „Warum Liebe wehtut“, der Graf die „Amoren für Marie“ des Renaissance-Lyrikers Pierre de Ronsard, Don Basilio, der Musiklehrer (!), nimmt, sehr lustig, Martin Gecks „Kürzeste Geschichte der Musik“ in die Hand, und der Jurist Don Curzio hat es mit Ferdinand von Schirachs „Strafe“ zu tun. Susanna liest, situationsbedingt, das „Elle“-Magazin, Sonderheft „Hochzeit“, sogar Barbarina liest: das „Total Tattoo Magazine“. Schon das hat Witz, denn die berühmte Nadel, die sie mit ihrer tieftraurigen Ariette sucht, ist hier zunächst nichts mehr als eine Tatoo-Nadel. Sehr witzig, mag sich der Opernbesucher denken, das mögen so „Aktualisierungen“ sein, die nicht weit reichen. Stimmt schon, aber wenn aus der „Nadel“ schließlich – von ihrer Funktion als briefzusammenhaltendes Objekt abgesehen – die Drogennadel wird und Barbarinas Musik plötzlich nicht allein melancholisch, sondern schier todverheissend klingt, hat der Scherz ein Ende.
Gut so! Denn eine wahre Komödie hegt zugleich, so hat das schon Mozarts Zeitgenosse Lessing gesehen, den Kern zu einer Tragödie. In Nürnberg begreifen wir sofort, dass Susanna eben keine lustig aufgelegte, sondern eine fast zerrissene Braut ist, die sich ihrer Gefühle nicht sicher sein kann. Die Idee ist nicht neu, aber sie mit der vokal und schauspielerisch überaus glänzenden Andromahi Raptis verwirklicht zu sehen, macht den Abend zu einem sehr spannenden. Herzog deutet, dies die Programmhefterltheorie, das Personal des „Figaro“ als einen Schicksalsbund von ganz normalen Leuten. Also ist der Graf kein Sexmonster, sondern ein Mann auf jenen Abwegen, die sich eben nach einer jahrealten Ehe ins erotische Gelände eingetreten haben. Samuel Hasselhorn ist ein stimmlich potenter wie fein nuancierender Conte, dem natürlich die Gefühle einer Susanna entgegentaumeln müssen – die Momente, in denen ihm Herzog einen Zug von zerbrechlicher Selbstreflexion und -kritik zugesteht, gehören zu jenen Augenblicken, in denen das Profil eines verzweifelten Mannes sichtbar wird, der weder denunziert noch entschuldigt wird. Auch Susanna ist ja keine Heilige… sondern ein Mensch und eben keine Opernpuppe. Wenn Corinna Scheurle als quicklebendiger Cherubino seine beiden Canzonetten als „Songs“ bringt, funktioniert zumal bei seinem ersten Einsatz die Distanz zwischen den ausgedrückten Gefühlen und der „show“ schon deshalb, weil Mozarts geniale Musik sehr viel (gewiss nicht alles) aushält – Ironie ist ihr ja nicht fremd. Nicht einmal in ihren zärtlichste Momenten wie eben jenem „Non so più…“. Und während der Uhrzeiger sich verdächtig schnell vorwärts bewegt, dürfen die Protagonisten dieses Tags zeigen, wie komödiantisch sie drauf sind: die spitze wie schicke Marcellina der Almerija Delic passt sehr gut zum beständig von Herzattacken molestierten Don Bartolo des Taras Konoshchenko, wenn Susanna und die Gräfin ihr Briefduett anstimmen, betätigt sich der Musiklehrer alias Hans Kittelmann, durchaus nicht denunziatorisch (er macht das ganz liebenswürdig), als Flötenpädagoge, der Gärtner des Seokjun Kim poltert herzhaft, aber nicht präpotent, durch das überaus geniale Finale des 2. Akts. Bleiben die weiteren Hauptrollen: Emily Newton spielt nicht die Gräfin, sie ist sie: als stimmliche Grand Dame, deren rostrotes Timbre glänzend zur enttäuschten Ehefrau passt. Bleibt der Mann, der im Titel aufkreuzt, obwohl hier offensichtlich auch Susannas Hochzeit vorbereitet wird. Adam Kim ist immer dann gut, wenn er sich über den tiefsten Tönen seiner Partie bewegt. Er ist sympathisch, jugendlich, ausgelassen und nur wenig brutal, wenn er dem demnächst auszurückenden (vulgo: gefeuerten) Cherubino den Marsch bläst. Er ist, rein spieltechnisch, der ideale Partner für die Susanna der Andromahi Raptis, weil man spürt, dass sie noch weit davon entfernt sind, einander zu gehören: sie in ihrer Unsicherheit, er in seinen misogynen Aufmantelungen.
Im Grunde sind sie alle Gefangene in ihren jeweiligen Räumen. Um dieser Gefangenschaft zu entsprechen, hat der Kostüm- und Bühnenbildner Mathis Neidhardt die Bühne in bewegbare Segmente eingeteilt, in denen die drei Zimmer dreieckig oder ungleich lange Vierecke sind. Am Schluss wird sich, nach dem dunklen Garten-Akt, die gesamte Konstruktion mitsamt der Protagonisten schließen: wie eine Mausefalle. Nur das Kind bleibt draußen, so wie es schon vorher „draußen“ blieb, obwohl es alles mitbekam.
Das Kind? Herzog erfand eine gemeinsame Tochter von Graf und Gräfin, an der der Ehekrieg nicht spurlos vorüber geht. Maja Novikov spielt das Kind mit der zarten Seele sehr bewegend.
Das letzte Vergnügen aber stiftet immer die Musik. Wenn die Staatsphilharmonie Nürnberg Mozarts reiche Partitur so spielt, dass selbst der sog. Kenner im typisch Mozartschen Stimmengewebe noch Phrasen wahrnimmt, die er bislang kaum oder kaum so deutlich hörte, wird der ungeheure Beifall (Klatschmarsch!), den die Dirigentin Joana Mallwitz am Ende geschenkt bekommt, nur zu verständlich. Die Staatsphilharmonie spielt die Nuancen heraus, fegt mit hoher Energie durch die Partitur, bildet dabei doch die seelischen Abgründe (die zärtliche Kantilene der dunkleren Streicher…), das lustige Gekecker der Holzbläser und das Vivo der Violinen ungemein kurzweilig ab. Mozart lebt an diesem Abend als Gesamtkunstwerk aus einer lebendigen Musik und einer Szene, die zwischen der Mozart-Zeit und der Gegenwart vermitteln kann. Es ist dies, angesichts der völlig veränderten gesellschaftlichen Zustände zwischen 1789 und der Gegenwart, keine Kleinigkeit; oft geht der Versuch der Erklärung, dass Mozarts Figuren „modern“ seien, weil sich die „Gefühle“ kaum geändert hätten, in die berühmte Hose. Hier aber kann tatsächlich gezeigt werden, dass uns Graf und Gräfin und Susanna und Figaro auf der Straße begegnen könnten.
Und was liest Figaro? „Figaro ist schlau. Er liest nicht“, sagt die Regie Das mag nicht stimmen, aber es ist immerhin eine schöne Lüge – so wie das Musiktheater, das zugleich völlig künstlich und doch ziemlich nah bei uns ist.