„Currant verba licet, manus est velocior illis“ [= Mögen die Worte auch eilen, die Hand ist schneller als sie] – diese lateinischen Worte sind auf dem Grabstein Franz Xaver Gabelsbergers (1789-1849) eingemeißelt. Der Erfinder der modernen Stenographie liegt im Alten Südlichen Friedhof von München begraben, und da ich unweit dieses Friedhofs aufwuchs, sind mir Grab und Inschrift von Jugend an vertraut. Freilich dachte ich damals nicht im Traum daran, dass ich später einmal im Stenohaus zu Bayreuth, dem einstigen Domizil der Deutschen Stenografenschaft, meinen Amtseid leisten würde.
Das Stenohaus, unterhalb des Alten Schlosses gelegen und von der Kanalstraße begrenzt, ist älteren Bayreuthern sicher noch gut in Erinnerung. Errichtet wurde der Sandsteinbau in den Anfangsjahren des Dritten Reiches. 1936 fertiggestellt erhielt er den Namen „Haus der deutschen Kurzschrift“ und wurde der Deutschen Stenografenschaft als Domizil zugewiesen. Der Volksmund verkürzte den sperrigen Namen zum griffigen „Stenohaus“. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kanalstraße entstand etwa zeitgleich das „Haus der Deutschen Erziehung“ mit seiner Weihehalle, in der bis Kriegsende regelmäßig Gedenkakte für Gauleiter Hans Schemm (1891-1935) stattfanden, der bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war. Mit der Gabelsbergerschen Kurzschrift konkurrierten im 19. und 20. Jahrhundert noch andere Kurzschriftsysteme. Jahrzehntelang rangen die jeweiligen Vereinigungen um eine einheitliche Stenographie. Selbst die deutschen Länder- und Reichsregierungen waren an diesem Ringen beteiligt. 1924 einigte man sich schließlich auf die sog. Deutsche Einheitskurzschrift (DEK). Nach 1933 glaubten die unterlegenen Richtungen, den Kampf nochmals aufnehmen zu können, sahen sich aber schon bald um ihre Hoffnungen betrogen. Das Dritte Reich hielt trotz einiger Modifizierungen an der Deutschen Einheitskurzschrift fest. Auch in diesem, nur scheinbar unpolitischen Bereich wollte man keine Pluralität, sondern setzte auf Gleichschaltung.
Stenohaus und Haus der Deutschen Erziehung wurden bei den alliierten Bombenangriffen im April 1945 gleichermaßen beschädigt, aber nach dem Kriege wieder aufgerichtet. Aus dem Haus der Deutschen Erziehung wurde der Sitz der BELG bzw. ihrer Nachfolgeunternehmen EVO und EON. Die Stenografenschaft – nach dem Krieg umbenannt in Deutscher Stenografenbund – erhielt ihr Haus wieder zurück und nutzte es bis zum Bezug eines neuen Quartiers im Jahre 1974. Damals galt das Gebäude bereits als baufällig. Das hinderte aber nicht, dass eben dort die Verwaltung der neu gegründeten Universität Bayreuth und Teile der Universitätsbibliothek (Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) einquartiert wurden, bis sie auf dem Campus eigene Neubauten (Teilbibliothek Rechts- und Wirtschaftswissenschaften 1980, Universitätsverwaltung 1994) erhielten. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre riss man das Stenohaus schließlich ab und gestaltete auch das umliegende Areal völlig neu.
Als frischgebackener Bibliotheksrat in Bayreuth hatte ich 1979 meinen Amtseid noch im Stenohaus zu leisten. Vor dem Gebäude befand sich damals eine Eisdiele, davor ein rechteckiges Wasserbecken, aus dem munter kleine Fontänen plätscherten. Mit dem alten Baumbestand ringsherum bot das Ganze einen idyllischen Anblick. Von Sparsamkeit und unbefangenem Umgang mit der jüngeren Vergangenheit legte das Innere des Stenohauses Zeugnis ab. Im Treppenhaus befanden sich Buntglasfenster, die den Bombenhagel überstanden hatten und auf die früheren Nutzer des Gebäudes hinwiesen. Mindestens eines davon zeigte einen geflügelten Bleistift, dessen Spitze nach unten wies. Um das obere Stiftende schlang sich das Hakenkreuz. Letzteres hatte man zwar mit schwarzer Farbe überstrichen, doch konnte es selbst ein ungeübtes Auge kaum übersehen. In seinem Internet-Artikel Bayreuth – ein virtueller Rundgang hat Markus Barnick zwar nicht das ganze Fenster, aber doch das entscheidende Motiv abgebildet, leider nur in Schwarz-Weiß. So blieb es bis zum Abriss des Stenohauses. Als ich vom unmittelbar bevorstehenden Abbruch erfuhr, rief ich beim Stadtmuseum (heute: Historisches Museum der Stadt Bayreuth) an und bat, die Buntglasfenster doch ja vor der Zerschlagung zu bewahren und für das Museum zu sichern. Leider scheint man meine Anregung nicht aufgegriffen zu haben, denn weder in den Schauräumen noch im Depot des Museums findet sich heute ein Glasfenster aus dem ehemaligen Stenohaus oder ein Hinweis auf seinen Verbleib. Es hätte auf jeden Fall erhalten werden sollen – nicht als NS-Devotionalie, jedoch als letzter Überrest eines abgegangenen historischen Gebäudes und als markantes Symbol für die Gleichschaltungspolitik des Dritten Reiches. Aber wer weiß, vielleicht taucht das Fenster ja doch noch einmal auf? Hat doch erst unlängst das Historische Museum aus Privatbesitz ein Buntglasbild (1,20 m x 1,20 m) geschenkt bekommen, das einem wenig bekannten, ehemals zwölfteiligen Bilderzyklus entstammt, der im Haus der Deutschen Erziehung seinen Platz hatte. Hoffentlich erhält das Historische Museum in nächster Zeit auch weiteren, dringend notwendigen Ausstellungsraum, um seine Sammlungen großzügig ausstellen und auch bemerkenswerte Neuzugänge zeigen zu können, statt sie aus Platzgründen ins Depot verbannen oder gar ihre Annahme ablehnen zu müssen.