Abdulrazak Gurnah ist des Literaturnobelpreises würdig. In seiner klaren, sehr präzisen Beschreibung einer Gesellschaft jenseits der westlichen, erinnert er an einen anderen Nobelpreisträger, an V.S. Naipaul — nicht von ungefähr, die Vita beider Autoren weist viele Ähnlichkeiten auf.
„Das verlorene Paradies” von Gurnah schildert eine uns fremde Kultur in allen ihren Schattierungen, dabei bleibt der Autor immer distanzierter Beobachter, nicht ohne Empathie, aber ohne das Geschehen einer Moral zu unterwerfen. Sehr wohltuend in der heutigen Zeit, in der die moralische Keule über Allem und Jedem geschwungen wird, wohlgemerkt, die Keule der Moral des Westens. Yusufs Geschichte wird schnörkellos erzählt, nichts an ihr ist marktschreierisch oder außergewöhnlich, alles bewegt sich in dem Rahmen, der einem Adoleszenten im kulturellen Umfeld eines ostafrikanischen Landes vorgegeben war.
Soweit so gut. Aber was schreibt Gurnah wirklich in diesem Roman, was will er sagen? Das Paradies, das Yusuf verliert, ist keines, der Titel des Romans (im engl. Original nur: „Paradise”) ist reine Ironie. Geschildert wird die Versklavung eines jungen Menschen, richtiger, von zwei jungen Menschen — der andere, Khalid, ist Freund, Kollege, Mitsklave, er fügt sich in sein Schicksal, nimmt es als unabänderlich an. Yusuf erkennt spät, dass er versklavt wird. Und als er erwachsen wird, bricht er mit der Tradition, mit der Gesellschaft, dem „Onkel”, der ihn in Besitz genommen hat. Aber erst im letzten, allerletzten Satz des Romans und vollkommen unerwartet: „Hastig blickte er sich um und rannte dann, mit brennenden Augen, der Kolonne nach.” Ende. Die „Kolonne” ist eine Truppe gerade zwangsrekrutierter junger Männer unter dem Kommando eines deutschen Offiziers. Yusuf lässt das „Paradies”, das Leben seiner Väter, hinter sich, wird Soldat der verhassten Kolonialmacht. Kann man sich befreien, indem man die Unfreiheit wählt? Gibt es unterschiedliche Grade von Freiheit?
„Das verlorene Paradies” von Abdulrazak Gurnah ist ein wahres Buch. Aber in Deutschland wird es wohl nicht lange auf den Bestsellerlisten stehen. Es entspricht nicht unserer political correctness. Auch das erinnert übrigens an V.S. Naipaul. Beide erzählen ungeschminkt von der Welt, der sie entstammen, in der sie aufgewachsen sind, die die ihre war und der sie entkommen sind. Gurnah wie Naipaul wollen uns sagen: Hier ging kein Paradies verloren, eine archaische Welt ging unter.