Das „große“ und das „kleine“ Bayreuth – darf man diese Unterscheidung machen? Natürlich nicht; das sagen ja schon die Gänsefüßchen.
Oder anders: Wie sich die Bilder von Fern zu ähneln scheinen – denn hier, in der „kleinen“, wie dort, in der „großen“ Oper namens „Parsifal“ treten gleich zwei Kundrys auf. Nur, dass in der Kinderoper, die 2023 auf der Probebühne IV am Grünen Hügel ihre zurecht von Groß und Klein umjubelte Premiere erlebte, die zweite Kundry nicht „Kundry“ heißt, sondern im Programmheft als „Heilerin“ bezeichnet wird. Dabei trägt sie – nicht singend wie die andere Kundry – das vor, was ihr Richard Wagner im ersten Akt ins Textbuch schrieb. Arabias Balsam, man kennt das ja, zumal dann, wenn man die Parallelaktion am 25. Juli dort oben, ein paar Meter oberhalb der Probebühne, miterlebt hat.
Wie aber richtet man, in diesem Fall: Frau, einen „Parsifal“ für die Kleineren der opernaffinen Besucher? Natürlich läuft die Geschichte auf ein Happy End hinaus. Nein, Klingsor geht nicht unter, Kundry muss auch wg. irgendwelcher Verirrungen seelenlos zu Boden gleiten. Stattdessen haben sie, natürlich, Teil am allgemeinen Fest, das sie schließlich zusammen mit Amfortas und dem quicklebendigen Titurel, mit Parsifal und den Knappen feiern. Katharina Wagner selbst hat die Fassung erstellt, die von Ruth Asralda sehr gewitzt inszeniert und von Linda Tiebel kindgerecht, d.h.: nicht unter Niveau ausgestattet hat, während die Kostüme von Ilona Bühler und Marion Kral geschaffen wurde; die phantasievollen Fantasiemasken kamen vom Studiengang Maskenbild – Theater und Film der Theaterakademie August Everding München. Der Zauberer schimmert silbern, Kundry hat eine echt schrillspitze violette Haartracht, die Knappen und Ritter sehen aus, wie man sich Ritter und Knappen im mittelalterlichen Kindermärchen vorzustellen pflegt, Gurnemanz und Parsifal kommen wahrscheinlich direkt aus dem Sherwood Forest – und die „Heilerin“ ist, in Person von Irmgard Seemann, eine liebenswürdige Waldfeenfigur aus dem ewigen Märchenreich der Träume, für die sich „Basilikum“ auf „Balsam“ reimt. Die Blumen(mädchen) aber leuchten entzückend im schwarzen Licht, das ihnen Peter Younes in die Black Box geschickt hat.
Die Blumen stehen überhaupt im Mittelpunkt der Szene. Betont Jay Scheib gerade oben auf dem Hügel die Verantwortung des Menschen für die Ökologie, bricht der Kinder-“Parsifal“ den schwer durchschaubaren Konflikt zwischen Moral, Sexualität, Blut und Sünde zugunsten einer einfachen, doch nicht minder eindrücklichen Lesart auf. Die simple Moral von der Parsifal-Geschicht‘ lautet einfach: Habt Euch lieb, dann wachsen die Blumen für Euch alle. Man mag das simpel finden, aber manchmal sind eben die einfachen Wahrheiten auch die einzig möglichen, zumal Wagners gewaltige und gewaltig intime Musik auch eine derartige Fortschreibung der Geschichte legitimiert: ohne „Sünden“-Geraune und Schuldbekenntnissen (obwohl Parsifal denn doch nach dem Kuss der Kundry sein „Amfortas!“ ausstößt und weitersingt). „Lass Dich nicht ablenken!“ – dieser Spruch, der dem jugendlichen Tenor von der gesamten Kinderschar entgegen gebrüllt wird, als es denn doch brenzlig wird, gilt auch für die Macherinnen der zauberhaften Produktion. Der Speer mutiert hier zum einfachen Zauberspeer, mit dessen Hilfe die Blumen zu erblühen vermögen. Klingsor, eifersüchtig auf die Pracht im Gralsreich, raubt ihn – und Parsifal erringt ihn wieder, weil er sich weder von den Blumen noch von Kundry, Herzeleides alter Bekannter aus dem Bridgeclub („Sie machte die beste Schwarzwälderkirschtorte“) „nicht ablenken lässt“. Und der schmatzige Kuss, den Kundry dem Toren gibt, ist durchaus nicht mit dem zu verwechseln, den Elīna Garanča gerade Andreas Schager auf den Mund drückte…
Für den gestandenen Wagnerfreund aber ist die Oper schon deshalb ein einziges Vergnügen, weil mindestens 50 Minuten reinster Wagner hörbar werden. Denn hinter der Wand der grauen Burgmauer sitzt das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder), das unter der Leitung von Azis Sadikovic den wahren Wagner so spielt, dass der Laie vermutlich gar nicht merkt, dass da gewaltig geschnitten werden musste. Dem Liebhaber der Wagnermusik aber fällt auf, dass man die drei Akte nicht besser hätte fragmentieren und mit Konzertschlüssen versehen können als es Marko Zdralek tat. So werden die 75 Minuten zu einem Feuerwerk der schönsten Stellen (wenn man einmal vergisst, dass es bei Wagner keine „schönen Stellen“, sondern allein schöne Werke gibt). Gurnemanz‘ Morgenruf, Amfortas Leidensariette, Parsifals Auftrittserklärung und Gurnemanz‘ Erwiderung, der zweite Teil der ersten Verwandlungsmusik, ein Querschnitt durch die Blumenszene, Kundrys Wiegenlied „Ich sah das Kind…“, das komplette Vorspiel zum 3. Akt, der Beginn des Karfreitagszaubers, die letzte Verwandlungsmusik, das Finale: das sind so Stellen, die den Wagnerianer glücklich machen. Dabei passt alles zusammen: Wo sich das Konzept auf eine Naivität berufen kann, die der Kinderoper einzig angemessen ist, wirkt Wagners große Musik nicht wie eine Begleit-, sondern nach wie vor als Hauptmusik. Die Besetzung ist ja schon edel: Nadine Weissmanns ausgesprochen witzige Kundry, Werner van Mechelens starker Klingsor, Andreas Hörls höchst profunder Gurnemanz, Olafur Sigurdarsons prägnanter Amfortas, Jens-Erik Aasbos bassstarker Titurel, Jonathan Stoughtons kraftvoll-heldischer Parsifal, Julia Grüters, Margaret Plummers und Marie Henriette Reinholds entzückende Blumen und Knappen halten sich stimmlich wie gestisch in keiner Weise zurück.
Klein sind nur die automatisch angetriebenen Laufentchen, die Parsifals Bogenschüsse überleben. Am Ende bleiben sie allein auf der Bühne zurück, nachdem sich die Tore zur Burg und die Falltür wieder schlossen. Was blieb, waren Hunderte von Plastikplättchen, die, im Licht der Bühne glitzernd, die Blumen und schließlich Amfortas wieder zum leidlosen Leben erweckend, auch über uns kleine und große Zuschauer verteilt wurden. Dass dazu die letzten Takte des „Parsifal“, wenn auch ohne Chor, im Original erklangen, machte die Rührung noch rührender. In der Tat: Große Oper, auch großes Kino der Gefühle, herzerwärmend und kinderopernmäßig sehr gut gemacht – und das alles ohne AR-Brille.