Letztes Jahr machte er viel Lärm auf der Gasse der Bayreuther Festspiele: der neue „Ring“, inszeniert von Valentin Schwarz. Heuer haben sich, was zu vermuten war, wie schon wähend des zweiten Zyklus des letzten Jahres die Gemüter ein wenig beruhigt, auch wenn der Dirigent und damit sämtliche Musiker im Graben ein paar respektlos-ridiküle Buhs abbekommen. Hat man ihn wieder mit dem Regisseur verwechselt? Man weiß so wenig.
Mag sein, dass die Inhaltsangabe, die Schwarz und sein Dramaturg Konrad Kuhn in diesem Sommer in das Programmheft hineinschrieben, für etwas Aufklärung gesorgt hat. Erzählt wird nämlich die Ring-Geschichte nicht so, wie wir sie aus dem Opernführer kennen. Nacherzählt wird jene „Ring-Erzählung“, die wir am Abend auf der Bühne sehen: also mit Hinweisen auf jene Verdeutlichungen und Interpretationen des von Wagner entworfenen Ring-Mythos, die in der Freiheit des Regisseurs zum eigenen Nachdenken über den Stoff begründet liegen. Abschliffe, Fragen, Rätsel bleiben freilich noch übrig, doch mit dem Programmheft in der Hand vermag vielleicht selbst der skeptische Zuschauer den Sinn dessen zu dechiffrieren, den der „Ring“ 2022/23 uns zum Knacken aufgegeben hat.
Wurde viel geändert in diesem „Rheingold“? Jein. Schwarz hat, wie er bekannte, im Sinn der Werkstatt Bayreuth einiges deutlicher gestellt. So wird nun klar, dass das Mädchen, das den Riesen zunächst zum Freikauf von der Götterschuld gegeben wird, ein „Ersatzkind“ ist, während das männliche Kind nach wie vor als das Gold, der Ring, der Reif firmiert. Die Frage bleibt, wem dieses Kind seine Existenz verdankt, denn ein Vater Rhein, der von den Töchtern des Rheins ausdrücklich genannt wird, dürfte kaum der Erzeuger des Jungen sein, der von Alberich zu einem Wilden ausgebildet, also zu einem Göttergegner umgeschmiedet wird – oder doch? Die Antwort ist vielleicht weniger wichtig als die Beobachtung, dass die Ersetzung von Gold/Ring/Reif mit einem Menschen nach wie vor sehr gut funktioniert und ein Knabe mit einer MP erschreckender ist als eine theatralisch meist peinlich mißlingende „Verwandlung“ Alberichs in einen „Riesenwurm“. An „Natur“ bleibt im Übrigen genug übrig, um das initiale Es und das sich daraus entwickelnde Vorspiel zu legitimieren: Wotan und Alberich, durch Nabelschnüte verbundene Albenbrüder, die im Mutterleib heranwachsen wie sich das Es-Dur-Gewoge allmählich entwickelt, sind ebenso Natur wie das Wasser vor der unbebauten Berglandschaft, in der wir uns Wotans Walhall vorstellen können. Dass das Wasser schon in der ersten Szene, in der Fassung eines Schwimmbeckens, kulturell domestiziert ist: dies verbindet Schwarz‘ Inszenierung mit einer anderen deutlichen Setzung der Bayreuther „Rheingold“-Interpretationsgeschichte. Chereaus und Peduzzis Stauwerk war 1976 ebenso radikal – und umstritten – wie Schwarzens und Andrea Cozzis Swimming Pool. Chéreau hat damals genau begründet, wieso schon zu Beginn der 1. Szene die Natur eine beeinträchtigte ist: weil schon zuvor der Urfrevel an der Weltesche vor sich ging, mit dem die Natur zu darben begann. Das Argument ist schwer zu wiederlegen. Schwarz irrt auch hier nicht, zumal sich die Rheintöchter als natürlich fiese Sadistinnen am armen Zwerg betätigen. Man merkt: Natur ist im „Ring“ alles andere als eine fantastische Idylle. Sie ist schon im Anfang, nicht zuletzt durch die „Naturwesen“ selbst, die nichts anderes sind als Menschen, gefährdet – und grausam wie der Riesenwurm im „Siegfried“, mag auch Wagner Anderes behauptet haben. Und das Argument, dass Wotan eines seiner Augen für die Gunst Frickas hingab, ist schon deshalb zweifelhaft, weil wir bereits im „Rheingold“ sehen, dass der Chef des Hauses vor allem eines tut: lügen. Denn auch Theaterfiguren haben das Recht, die Unwahrheit über sich und die Welt zu sagen. Manchmal bräuchten sie einen Hörer vom Schlage Siegfrieds, der ihnen die Gedanken abzulauschen vermöchte.
„Zwang uns allen schüfe der Zwerg, würd ihm der Reif nicht entrissen.“ Wenn Donner das singt, schmunzelt man ein bisschen und denkt an den sächsischen „Zwerg“, der den „Ring“ geschmiedet hat – denn sieht der Darsteller der Partie in seiner Maske nicht wie ein Doppelgänger des Regisseurs aus? Schwarz hält sich das Recht vor, gelegentlich Witze zu machen, ohne das Wesen der bösen Handlung ausser Ascht zu lassen. Am Ende tanzt sich Wotan buchstäblich in den Machtrausch hinein: ein ironischer Kommentar zur Katastrophe, die schon durch Erda angekündigt und von Loge vorausgeahnt wurde. Der Rest ist eine musikalische Interpretation, die vom Orchester unter der Leitung des neuen „Ring“-Dirigenten Pietari Inkinen getragen wird. Abgesehen von den scheppernden und rhythmisch allzu einförmigen, elektronisch erzeugten Ambossen entwickelt das Orchester der Bayreuther Festspiele einen satten Klang mit dynamischen Spitzen; dass die Riesen derart vehement auftreten, ist auch in Bayreuth nicht selbstverständlich. Das „Rheingold“-Orchester ist gegenüber den nächsten Teilen der Tetralogie noch ein wenig diskreter; Inkinen schafft den Raum für einen unterhaltsamen, satten Farbklang und schönste kammermusikalische Sequenzen. Die Mozart-Kantilene blüht, wenn Fasolt seine Sehnsucht nach dem „Weib“ beseelt besingt, das Finale tönt auf, ohne durch Penetranz zu nerven. Und Erdas Erscheinung, mit der eine völlig neue Klangsphäre in das Werk gerät, kommt durch deliziöse Tempogestaltung und feine Dynamik einfach magisch daher.
Fasolt und Fafner sind diesmal, sehr gut, der helle Bass Tobias Kehrer und sein dunkler Bruder Jens-Erik Aasbo. Das Rheintöchter-Terzett bildet mit der Woglinde Evelin Novak, die auch den Minnemachtspruch besonders markant singt, der Wellgunde Stephanie Houtzeel und der Floßhilde Simone Schröder eine harmonische Einheit. Die „kleinen“ Götter Donner und Froh sind mit Raimund Nolte und Attilio Glaser, der den Schöngeist als lyrischen Operntenor anlegt, exzellent besetzt. Daniel Kirchs Loge hat, glaube ich, an Sicherheit gegenüber 2022 hinzugewonnen (spielen kann er eh), und Arnold Bezuyens Mime wird von Jahr zu Jahr besser, genauer und intensiver. Fricka ist wieder Christa Mayer, das Ideal einer strengen wie einschmeichelnden, deklamatorisch auftrumpfenden Mutter des Hauses, und Freia hat mit Hailey Clark eine erstrangige Vertreterin gefunden. Wieder dürfen wir Okka von der Dameraus Erda sehen und hören, denn auch 2023 füllt sie die stimmlich kurze, aber unendlich wichtige Partie souverän aus. Bleiben zwei Grenzfälle: die beiden Brüder. Olafur Sigurdarsons Alberich zeichnet sich einerseits durch große artikulatorische Klarheit und auch vokalen Spieleinsatz aus, aber sein knörziger Bariton ist, auch wenn ihn das Publikum bejubelt, nicht jedermanns Sache. Bei Tomaszb Konieczny verhält es sich ähnlich. Natürlich muss man diesen Sängerdarsteller für seinen spielerischen Einsatz und sein vokales Volumen loben, aber sein von polnischen Färbungen nicht freier Bassbariton befindet sich immer kurz vor jenem Stimmklang, den man als „Knödeln“ zu bezeichnen pflegt. Auch hier: Riesenbeifall.
Fortsetzung der „Ring“-Serie folgt.