Es wurde aber auch Zeit. „Die Zauberflöte“ ist bekanntlich nicht allein eine der populärsten deutschen Opern, die seit ihrer Premiere im Winter 1791 die Zuschauer und -hörer unablässig in den Bann zieht. Sie ist auch jene Oper, die ausnahmslos und immer noch sämtliche Generationen, von 6 bis 99 Jahren (und vielleicht noch darüber hinaus), zu faszinieren vermag. Daher verwundert es nicht, dass keine deutsche Oper so häufig auf den Bühnen der Marionettentheater zu sehen ist: in Salzburg, Wien und andernorts. Das macht: die Tatsache, dass das Stück sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen, die eventuell Kind geblieben oder auch alt und „weise“ geworden sind, gleichermaßen verstanden werden kann.
Kein Wunder, dass in der Bayreuther Premierenvorstellung des Marionettentheaters „Operla“ zwei kleine Mädchen saßen, die die immerhin zwei Stunden Spieldauer geduldig und mit Anteilnahme genossen. Es wurde also Zeit, dass Mozarts Wunderwerk endlich auch im hiesigen Puppentheater inszeniert wurde. Bisher kamen in der kleinen Bayreuther Bühne „Hänsel und Gretel“, „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ zum Vorschein; im Fall Wagners legitimiert schon die Nähe der kleinen zur großen (Festspiel-)Bühne das gewagte Unternehmen, wobei ästhetische Vorbehalte, v.a. in Bezug auf die nötigen Kürzungen, unausweichlich sind. Bei der „Zauberflöte“ aber verhält sich‘s anders. Die Schnitte, die hier gemacht werden können, tangieren nicht das sog. Große Ganze, ja: der Wegfall des (musikalisch freilich bezaubernden) Terzetts erlaubt schon durch die problematische und rätselhafte Stellung dieser Nummer im dramaturgischen Gesamtgefüge des Werks, die Abwesenheit des (freiwillig/unfreiwillig komischen) Priester-Duetts und von Papagenos und Paminas (herzerwärmendem) Duett über die Liebe berührt nicht die Handlung, „nur“ die Figurenzeichnungen. Also: die Fassung, die die Regisseurin Gudrun Hartmann erstellt hat, bietet alles Nötige für all die „Zauberflöten“-Neulinge, die doch immerhin zwei reine Stunden „Zauberflöte“ geschenkt bekommen. Man legt die Züricher Einspielung unter Nikolaus Harnoncourt auf – und ließ die Texte von Sprechern einsprechen. Da wird auch mal, natürlich bei Papageno und Martin Kelz, herzhaft gefränkelt, selbst dem Sprecher bzw. Priester hört man es an, dass er in Oberfranken seine religiöse Sozialisierung erfuhr (da Heinz Petri ihn aufs Band bannte). Die Regisseuse selbst ist als Königin der Nacht zu hören, wo Intention und Stimme eins werden: die Nachtherrscherin ist eine verstehbare Figur, nicht das pure Gegenbild zum „guten“ Zauberer. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Marionettenfigur des Sarastro etwas gelind Draculamäßiges anhaftet… Kein Wunder, dass er Papageno und Tamino auf den Friedhof schickt, wo sie ihre Prüfungen bestehen müssen. Doch scheint das Finale, das man auf 1000 verschiedene Arten – und erstaunlich oft „richtig“ – inszenieren kann, darauf hinauszulaufen, dass der Macht- und Geschlechterkrieg zwischen dem Mann und der Frau, dem Zauberer und der Königin, sich zum Guten wenden wird. Zumindest ist es die Königin, die dem Herrscher im Sonnenreich noch im Niederfallen des Vorhangs die Hand zur Versöhnung zu reichen scheint.
Das sind so Interpretations-Details einer feinen Inszenierung, die schon aufgrund der grazilen Figuren das Subtile selbst dort provoziert, wo sie wie die Drei Damen sich um den ohnmächtigen Jüngling herumzicken, um in der nächsten Szene deutlich blessiert wieder aufzutreten. Witzig! Der Prinz aber ist genau das, als was er von der Ersten Dame angesprochen wird: ein „schöner Jüngling“. Die Puppen wurden übrigens vom auch in Bayreuth bekannten Regisseur Hinrich Horstkotte („Don Giovanni“ 1998) und Philipp Brunner gebaut, die zur Urgeschichte dieser Inszenierung gehören, während Bühne und Kostüme von der Prinzipalin Gisela Mösch-Ahner geschaffen wurden – mit Ausnahme der Bühnenprospekte, einem Werk der Malerin Rita Oppold. Die Szene hat denn auch etwas Impressionistisches, während sie auf fast alle Andeutungen irgendeiner pseudoägyptischen Szenerie, ja: einer Architektur (Tempel innen, Tempel außen, Vorhof) verzichten kann. Mit Hilfe einer praktischen Rollbahn wird zwischen dem Grün der Schlangengegend, einer schneebedeckten Berglandschaft und dem blauen Dunkel des Palastbereichs hin- und her gewechselt, ohne dass der Zuschauer den Eindruck haben muss, dass die Welt Sarastros ins eindeutig Schwarze gezogen würde. Die Lichtgestalt in diesem Psychostück ist eh nur eine: Pamina, die in symbolischem Strahlendweiß ihre Unschuld bezeugt und am Ende die entscheidende Tat vollbringt: Sie nimmt für sich das Recht der Liebe in Anspruch, zusammen mit dem Prinzen die Prüfungen zu bestehen, womit der Bannkreis der im Priesterreich herrschenden Weiberfeindschaft durchbrochen – und aufgehoben wird. Auch die Königin und ihre Mitverschwörer fahren am Ende nicht zur Hölle. Dies verhindert schon der Umstand, dass eine Marionettenbühne naturgemäß keine Versenkung haben kann. Selbst Monostatos, ein Steampunk im edlen Reich der einseitigen Aufklärung, der Mann mit dem Gesicht eines „Gespensts“, darf am Ende, obwohl er an seinen Trieben scheiterte, darauf hoffen, zum wiederholten (!) Mal Verzeihung zu erlangen.
Papageno sieht dagegen aus, wie man sich Papageno vorzustellen pflegt, die „Alte“ ist eine alte Älplerin, die Junge eine fesche Papagena, der Sprecher, typisch, ein älterer Herr mit Ärmelschonern, die Drei Damen und der Prinz entstammen dem Ancien Régime der Mozartzeit, die Königin ist eine Dark Queen of Dark Fairies, die Drei Knaben kommen als orientalische Fes-Jungen auf ihrer Luftgondel daher – und die beiden Geharnischten sind lustig-gruselige Gesellen mit angedeuteten Pyramidenhelmen. Das alles unterstreicht den Märchencharakter des Stücks, das mit seinen Stilmitteln hier tief ins 18. Jahrhundert reicht und gleichzeitig ein wenig zur Fantasy der Gegenwart vermittelt – und Pamina, die heimliche Königin der Herzen, ergreift auch an diesem Abend. Sage keiner, dass die Möglichkeiten eines Marionettentheaters eingeschränkt seien. Das Gegenteil ist selbst in einem relativ „armen“ Theater der Fall, in der der Zuschauer schon schnell vergessen hat, dass er „nur“ bewegte Figuren vor sich hat.
Man sieht: „Die Zauberflöte“ bleibt auch im kleinen, großen „Operla“ ein wunderbares Stück für Alle und Jeden, ohne der Beliebigkeit und der Ideologisierung ausgeliefert zu werden. Ich sollte mich wundern, wenn diese bezaubernde Produktion nicht zum Publikumsrenner werden würde. Es wurde aber auch Zeit…