Dass ein Musiker die Festspiele besucht, ist nichts Besonderes. Dass ein großer Komponist ein Werk in Bayreuth uraufführt, schon eher. „Das Konzert des Liederkranz, ein musikalisches Ereignis, wie es seit Jahren in den Annalen Bayreuths kaum seines gleichen findet“: derartig pathetisch beschrieb ein Rezensent der örtlichen Zeitung das Ereignis, das am 17. Oktober 1911 im Sonnensaal in der Richard-Wagner-Straße 4 den Zuhörern kredenzt wurde. Mit Max Reger war ein Komponist in die Stadt gekommen, der noch heute bei manchen Musikfreunden als schwierig gilt, weil sich seine oft herbe Tonsprache weder einer strengen Schule noch einer Richtung zuordnen lässt. Regers Stil vermittelte zwischen dem, was man mit einem ungenauen Begriff als „Spätromantik“ zu bezeichnen pflegt, und, vor allem auf harmonischem Gebiet, einer unorthodoxen Moderne. 1911 hatte er, dem noch fünf Jahre eines rastlosen Schaffens blieben, seine Berufung zum Meininger Hofkapellmeister erhalten. Bevor er endgültig dorthin zog, tourte er noch durch Deutschland. So gastierte er 1911 als Stargast des Liederkranz-Konzerts mit einem„Bach-Brahms-Reger-Abend“ in Bayreuth, wo er zusammen mit Robert Reitz seine Violinsonate e-moll op. 122 aus der Taufe hob, 23 Jahre, nachdem der 15jährige bei den Festspielen den Parsifal und Die Meistersinger von Nürnberg angeschaut hatte und tief beeindruckt nach Hause gefahren war – vielleicht so, wie die Besucher des Konzertabends, die gerade Zeuge einer Reger-Uraufführung geworden waren, bevor sich der Meister zum Schlemmen und Schlafen in den Goldenen Anker zurückzog.