Auch der Ring selbst – abgesehen von einer Szene in Nibelheim wird er ja gar nicht als Machtmittel eingesetzt. Er ist eigentlich Symbol und Projektion für Wünsche.
Valentin Schwarz
Das erste Buh kommt, natürlich, noch im Ausklang des Schlussakkords. Auch der Dirigent bekommt sein Fett ab, doch ist zu vermuten, dass ihn einige Buh-Rufer mit dem Regisseur verwechseln, der längst abgereist ist. Nein, man kann nicht darüber streiten, ob Cornelius Meister die Unmutsbekundungen verdient hat. Wackelte es auch einige Male zwischen Bühne und Orchestergraben, so legitimieren derartige Schönheitsfehler doch nicht das Geschrei gegen den Leiter des Festspielorchesters, damit gegen dieses selbst. Sogar der Sänger des Wotan wird ausgebuht, obwohl an dessen vokaler und darstellerischer Leistung akkurat nichts, aber auch gar nichts auszusetzen ist. Das Erregungspotential des Bayreuther Publikums ist, scheint‘s, groß, die Erregungsschwelle umso niedriger, was leider gut zu den allgemeingesellschaftlichen Gröhl-Bewegungen der letzten Jahre passt – man macht viel Lärm um wenig. Liegt‘s daran, dass es immer uninformierter in die Vorstellungen geht? Dass viele Besucher, die der Opern ansonsten vielleicht fernstehen, wenig Erfahrungen mit moderner Regie, Benimmregeln und Wagner-Deutungen hat, die man doch zwischen Hamburg und München ähnlich sehen kann, und die ein wenig Einfühlungs- und Abstraktionsvermögen, ein wenig Toleranz in Sachen Textabschliff, auch Werkkenntnisse verlangen?
Natürlich kann man es verstehen, dass ein Bayreuth-Besucher, der in summa bis zu 3000 Euro für einen Ring inklusive Fahrtkosten, Hotel und Verpflegung ausgibt, frustriert ist, wenn er nicht seinen persönlichen Wunsch-Ring sieht und hört. Es entschuldigt wenig. Wir werden sehen, was am Ende des Spiels noch übrig bleiben wird von jenen zur Szene verwandelten Grundsätzen, die Valentin Schwarz und sein Dramaturg Konrad Kuhn im Werk selbst (wie es auf dem Papier steht) entdeckt haben. Kuhn bestätigt im Programmheft, auf dessen Lektüre vermutlich viele Besucher verzichten, weil sie ja „eh schon alles wissen“, nur die Beobachtungen, die die Musikwissenschaftler an der Hauptsache – dem musikalischen Material – gemacht haben. Melanie Wald und Wolfgang Fuhrmann haben in ihrem wichtigen Buch über Wagners Erinnerungsmotive herausgestellt, dass es spätestens in der Götterdämmerung einen „Kollaps der Semantik“ eben jener Motive gibt. Sie waren nicht die ersten; schon Robert Gutman hat vor über 50 Jahren in seiner köstlich polemischen Wagner-Biographie geschrieben, dass die Bedeutung manchen Auftritts eines Motivs eher musikalisch als dramaturgisch motiviert ist und oft zufällig anmutet. Gelegentlich ist es unmöglich, einen spezifischen Einsatz eines Motivs eindeutig zu erklären. Wer zudem den Text kennt, wird immer wieder feststellen, dass sich manche Aussagen der Ring-Protagonisten vom Rheingold bis zum Schlussstein der Tetralogie durchaus widersprechen, oder anders: nicht alles, was eine Figur auf dem Theater sagt oder singt, muss der Wahrheit entsprechen. Was Wotan über sich im Siegfried erzählt, ist bereits höchst fragwürdig, was dem Ring attestiert wird, ist schlicht und einfach falsch. Wagners Ring-Dramaturgie besteht, so großartig die äußere Einheit des gesamten Werks anmutet, auch aus Brüchen – sie produktiv zu machen und dem Theater zu geben, was des Theaters ist, auch wenn manch Interpretation so vieldeutig erscheint wie das Werk selbst, ist kein Scheitern aus Unvermögen, sondern der Versuch, den Ring überhaupt erst einmal „im Licht unserer Erfahrung“ (wie Thomas Mann gesagt hätte) zu deuten. Dazu muss man sich nicht einmal auf den von Valentin Schwarz eingeworfenen Vergleich des Ring mit einer Netflix-Serie berufen.
Es sind eben jene Widersprüche, Zweideutigkeiten und offenen Fragen, die die Regie dazu legitimieren, die Geschichte „weiterzudenken“, wobei die Betonung sowohl auf „weiter“ wie auf „denken“ liegt. Das muss nicht jedem gefallen, aber man hat – auch in Bayreuth, wofür der Dorst-Ring von 2006 das beste Beispiel ist, schon wesentlich Dilettantischeres, Langweiligeres, Trivialeres gesehen als das Rheingold in der Bayreuther Neuinszenierung. Genau genommen zieht es seinen Reiz gerade aus der dezidierten Deutung: wo andere Regisseure versuchen, Wagners Regieanweisungen – es sind Regieanweisungen aus dem Geist eines historistisch-fantastischen Theaters des mittleren 19. Jahrhunderts – mit der Moderne zu versöhnen und oft dran scheitern, behauptet Schwarz zusammen mit seinem Dramaturgen und dem Bühnenbildner erst gar nicht, dass es möglich wäre, die Bühnenvorstellungen Richard Wagners in ein Heute zu bringen. Stattdessen setzt er auf radikale Konkretisierungen: der Ring ist weder Ring noch Symbol, sondern ein Kind, ein Erbe der Welt der Familie, deren Geschichte Wagner über vier Abende ausgebreitet hat. Die Idee ist bestechend, und sie ist nicht falsch: wo die Menschen nach Macht gieren, kann ein Erbe zum Hoffnungsträger für die Verlängerung von eigenen Allmachtsvorstellungen werden. Ebenso wörtlich wie der „Erbe“ gerät der „Hort“ in den Blick: sowohl in der initialen Szene, die Alberichs Verspottung, also den Machtmissbrauch der Rheintöchter, und seinen Frevel enthält, als auch in Nibelheim, wo das Gold-Kind mit der fast goldgelben Kappe, einem säkularisierten Tarnhelm, zusammen mit einer kleinen Truppe von totalitär gekleideten Mädchen zum gewalttätigen Ring-Kind geschmiedet wird, indem er nicht erzogen, sondern in seiner kindlichen Wildheit belassen wird. Dass die ansonsten meist peinliche „Riesenwurm“-Szene funktioniert, liegt an der Deutung eben des Kinds als Ring. Erschreckender als ein theatralischer Pappkamerad oder ein technisches Äquivalent ist immer noch ein unempathischer Knabe, der einem mit einer Pistole vor dem Gesicht herumfuchtelt. Nicht weniger geglückt ist die Kröten-Szene: Alberich, für Loge und Wotan nur eine menschliche „Kröte“, lässt seine Waffe auf dem Boden liegen, mit der er selbst unterworfen werden kann. Das ist nicht superoriginell, aber es kommt mit Wagners Idee eines dummen Kerls angesichts eines machtlosen „Rings“ sehr gut zurecht.
Wer immer behauptet, dass Schwarz das Stück nicht kenne und den Mythos für unwichtig hält, hat nicht genau hingeschaut und kennt Wagners Mythosbegriff offensichtlich nicht. Denn Schwarz‘ Regie ist, von Einzelheiten abgesehen, an denen man arbeiten kann, detailliert und begründet, während das, was Wagner als „Mythos“ bezeichnete, schon für den Mythensynthetiker nichts Anderes war als eine Darstellungsart des Menschlich-Allzumenschlichen. Selbst Erda, die aus den tiefsten Tiefen der Ring-Fabel zu kommen scheint (wofür schon die Musik spricht), ist in einer komplett verweltlichten Deutung schon deshalb richtig, weil ihr in der Neuinszenierung nichts von der ihr eigenen Würde genommen wird. Okka von der Damerau ist Erda – und dies nicht obwohl, sondern weil sie in diesem Rheingold von Anfang an ihre Rolle spielt; wann sie im Lauf des Abends zum ersten Mal auf die Szene kommt und das Tablett laut scheppernd zu Boden fallen lässt, um eine markanten Bruch ins Werk zu setzen, ist angesichts der dramaturgischen Stringenz der Familiengeschichte und ihres einen, wichtigen Einsatzes seltsam unwichtig. Dass und wie sie zu singen beginnt: das ist ebenso entscheidend wie der Umstand, dass sie nach ihrem musikalischen Abgang weiterhin als Familienmitglied am Familiendrama teilhat – als Hüterin der Mädchens, dem Pendant zum Ring-Knaben. Wie gesagt: es funktioniert, weil es, auch hier, keinen Widerspruch zwischen Text, Musik und Handlung gibt.
Man versteht übrigens, und auch dies ist eine Leistung der Regie, recht eigentlich zum ersten Mal, wieso der Verkauf der Freia an die Riesen kein unrealistisches, „mythisches“ Motiv, sondern eines der bedrängenden Gegenwart ist. Kommen Fasolt und Fafner wie zwei Gangster daher, die zum Vertrags(ver)brecher Wotan sehr gut passen, befinden wir uns in einer mafiösen Welt, in der natürlich die Autonomie von jungen, hübschen Familienmitgliedern nur auf dem Papier steht. Gar nicht zu denken an Clans, in denen Frauen nach wie vor gegen ihren Willen verheiratet und verschleppt werden. Dem Einwand, dass das alles nicht bei Wagner stehe und der „Mythos“ und dessen „Erhabenheit“ bei Schwarz nicht vorkämen, kann mit zwei zusammenhängenden Fragen entgegengekommen werden: Welchen Wert hat ein Theater, dessen dramatischer Handlung wir nicht einmal im Traum glauben würden? Und welchen Wert hat der Mythos, wenn wir ihn nicht für uns deuten und neuerzählen würden? Die Philologen wissen, dass auch Wagner sich seinen Ring-Mythos aus den alten Überlieferungen zu einer gänzlich neuen Form zurechtgestutzt hat, wie es nur ihm in seiner Zeit möglich war – so wie Aischylos die uralte Familiengeschichte der Atriden, die Wagner genau studiert hat, in seiner unverwechselbaren Deutung in sein zeitgenössisches 5. vorchristliches Jahrhundert gebracht hat. Wären Erda und die Rheintöchter keine Menschen, die uns interessieren, was wären sie dann? Tote Götter und fantastische Naturwesen – natürlich wäre eine voll illusionistische Ring-Inszenierung, die es aus verschiedenen Gründen nicht geben kann, sehr schön, aber sie wäre zugleich, vermute ich, bedeutungslos. Nebenbei: Wotan ist zwar ein Vertragsbrecher und alles andere als ein „Gott“, aber die Kunst dieses Abends besteht auch darin, dass die gelegentlich große Musik, die Wagner dem moralisch inkontinenten Familienvater geschenkt hat, doch nicht ins Unrecht gesetzt wird. Im Gegenteil: Musik und Szene bilden eine Einheit selbst dort, wo die Gefahr, dass die Unperson Wotan in tiefen Widerspruch zu seiner oft, ja, „erhabenen“ Musik geraten könnte, sehr groß ist. In diesem Rheingold gibt es zwar, wie von Wagner intendiert, gelegentlich burleskes Theater, aber kein absurdes: weil, z.B., Egils Silins einen ernsthaften, glänzend verständlichen Wotan singt, dessen Stimme volltönend und bassbaritonal die Deutung beglaubigt. Wenn Arnold Bezuyen sich als Mime in der Tarnhelm-Szene scheinbar ängstlich vor seinem Bruder auf den Boden wirft, sehen wir, dass er sich nichts weiter als einen Spaß macht – kein Widerspruch zu Text und Musik, auch nicht Loges authentisches Erschrecken vor dem bewaffneten Kind. Gelungen ist ja schon der Beginn: die Demütigung des schmuddeligen Onkel Alberich durch die drei Rheintöchter, vulgo: Kinderbespaßerinnen, kommt brutaler, also überzeugender und szenisch gekonnter daher als in vielen anderen Rheingold-Inszenierungen; dies ist schon die erste szenische Klippe der Ring-Tetralogie, die Wagner mit an sich uninszenierbaren Regieanweisungen versehen hat.
Schön also, dass die Sänger diesmal nicht, wie bei Castorf 2013, ins Aus einer entfesselten Videomanie geraten oder, wie bei Dorst 2006, auf sich gestellt sind. Sie, nicht irgendeine präpotente Szenerie, sind die sichtbaren Spieler des Dramas, die sich nicht gegen eine abstrakte, schlecht ausgeführte Idee (der Fall Dorst) oder ein strikt gegen die Musik operierendes Bildertheater (der Fall Castorf) zur Wehr setzen müssen. Sie haben im Bühnenbild, einer eleganten modernen Wohnung und einem darüber liegenden Kinderzimmer, den rechten, von Andrea Cozzi entworfenen Raum. Sie halten das Niveau, auch wenn man manch Rolle in Bayreuth schon brillanter besetzt gesehen hat. Der Reihe nach: Egils Silins bildet zusammen mit Christa Mayer ein erstklassig eingestimmtes „Götter“-Paar; die Fricka ist wie geschaffen für Christa Mayer, indem sie ihr eine elegante vokale Schärfe verleiht, die glänzend zur Figur einer mal mehr, mal weniger souveränen Familienmutter passt, ja: mit der Fricka hat Christa Mayer eine ihrer allerbesten Bayreuther Rollen gesungen. Loge heißt Daniel Kirch; er heimst sich, was schier ungerecht ist, ein paar Buhs ein, obwohl er nicht mit dem Regisseur verwechselt wird. Man hat schon spitzere, wendigere, schillerndere Loges in Bayreuth gehört, aber auch er reiht sich in ein gutes, homogenes Rheingold-Ensemble ein. Für Olafur Sigurdarson gilt das Selbe: sein Alberich ist nicht abgrundtief schwarzschillernd, passt insofern zur Beobachtung, dass der von den drei Damen zum Zwerg gemachte Mann nicht von Anfang an „böse“ ist. Die Töchter werden von Lea-ann Dunbar, Stephanie Houtzeel und Katie Stevenson gesungen: rollendeckend, genau, treffend. Die „kleinen“ Götter, Strizzis, Wenigtuer und Herumsitzer, sind Raimund Nolte als Donner, der den Golfschläger für den Hammer nimmt, bei dem die große Geste zu einem kleinen Stoß gerinnt, was, im Sinn der genau gelesenen Konversationskomödie, die Rheingold ja auch ist, hübsch beobachtet wurde, und Attilio Glaser als Froh, der seine wenigen Phrasen frohmäßig aussingt. Noch weniger Sätze hat die dramaturgisch wichtige Freia zu singen – die Wurzen wird von Elisabeth Teige gebracht, bei deren vokalen Bögen man sich auf ihre Gutrune freuen kann. Schließlich Fasolt und Fafner: Fafner, also Wilhelm Schwinghammer, erschlägt den Fasolt, also Jens-Erik Aasbø, der vor seinem Tod noch schöne, helle lyrische Töne produzieren darf, während Schwinghammer den Fafner gut eindunkelt.
Der Abend beginnt bereits mit einem Brüderbild: Luis August Krawen hat ein Video gemacht, in dem man zunächst zwei Nabelschnüre, dann zwei groß gewordene Föten sieht. Die Gewalt bricht schon im Mutterleib aus, der eine schlägt dem anderen ins Auge, bis es Blut spritzt. Brüder gibt es ja im Familiendrama des Ring genug: die „Riesen“, Gunther und Hagen – und die beiden Alben, die auf ihre Weise feindlich verbunden sind: Alberich und Wotan. Muss man also schon genau wissen, wen das Video zeigt? Nein, denn es harmoniert schon einmal sehr gut zur Musik.
Also ganz anders als die uninformierten und respektlosen Buh-Rufer.
Sehr gut nachvollziehbarer Bericht über die 3 ersten Abende des “Rings”, ich hoffe, es gibt auch einen weiteren zur Götterdämmerung.