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Vom Reichtum deutscher Sprachkunst und Kulturkritik

Das neue BuchVom Reichtum deutscher Sprachkunst und Kulturkritik

Endlich erschienen: Hans Mayers Shakespeare und die Deutschen

Er war ein wahrer homme des lettres. Wie kein zweiter Literaturwissenschaftler vermochte er es, dem Leser und Hörer (er war auch ein begnadeter Redner) komplexe Zusammenhänge so auszubreiten, dass sie nicht unter Niveau erschienen und doch den Reiz des Diffizilen bewahrten. Er war auch in Bayreuth bekannt, wo er jahrzehntelang das intellektuelle Gesicht der Festspiele mitprägte und sich in den Programmheften mit profunden Beiträgen zum Werk Richard Wagners verewigte.

Als er 2001 hochbetagt starb, hinterließ er 50 Bücher und hunderte von separat publizierten Aufsätzen und Artikeln, die nach wie vor höchst lesenswert sind. Ist das, was bislang vorlag, der ganze Mayer? Nicht ganz. Die Kenner seines umfangreichen Werks wussten, dass nicht alle seine schriftlich niedergelegten und im Radio und in freier und gebundener Rede vorgetragenen Texte im Druck erschienen sind. Umso schöner, dass nun, nachdem Mayer in seinen Memoiren kurz darüber berichtet hatte und das Buch bereits seit vielen Jahren angekündigt worden war, nun endlich, fast ein Vierteljahrhundert nach dem irdischen Dahinscheidens Hans Mayers, eine Vortragsreihe herauskam, die man mit genauso viel Begeisterung lesen kann wie ausnahmslos alles, was der Literatur- und Kulturwissenschaftler zwischen 1929 und seinem Todesjahr 2001 zu publizieren hatte.

1964 feierte man den 400. Geburtstag des Illiteraten Kaufmanns aus Stratford, den viele Menschen für „Shakespeare“ halten. Dabei gibt es beste Gründe, im Autor der Dramen, Versepen und Sonette Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford zu sehen. Allein Mayer ging es weder um Autorschafts- noch um anglistische Fachfragen. Als im Sommer des gewissermaßen falschen Jubeljahres im WDR seine achtteilige Vortragsreihe „Shakespeare und die Deutschen“ ausgestrahlt wurde, war er ganz bei seinem Thema: der Betrachtung der (deutschen) Literaturgeschichte unter den Bedingungen einer kritisch gesehenen Gesellschaft. So interpretierte er, von Gryphius zu Grass, also vom Literaturbarock zur unmittelbaren Gegenwart, den ungeheuren Einfluss, den der britische Dichter auf die deutschen Autoren seit dem 17. Jahrhundert hatte. Jeden Sonntag sprach er, jeweils 45 Minuten lang, über eine Epoche und einen Stil, um gleichzeitig über den „Reichtum deutscher Dichtung, Kulturkritik und Sprachkunst“ zu reden. Schon die Gliederung der acht Beiträge war ingeniös: jeweils gipfelnd in einem besonders breit zitierten Text über ein bestimmtes Shakespeare-Drama, so dass man am Ende nicht allein etwas über die persönlichen Befindlichkeiten der jeweiligen Epochenvertreter (Hauptmann und Fontane, Kerr und Grabbe undundund…), sondern, gespiegelt durch deren Optik, auch subjektiv Relevantes über Shakespeares Werke selbst erfuhr. Zentrales Thema aber war dem Mann, der ein wichtiges und monumentales Buch über das „unglückliche Bewusstsein“ – was heißt: die deutsche Misere im Zeichen der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts – veröffentlicht hatte, die Ansicht des deutsch interpretierten Dichters im Raum einer Selbsterkenntnis. Da sprach durchaus, wie so oft bei Mayer, Autobiographisches mit. Gustav Landauers Anmerkungen zum Kriegsstück „Troilus und Cressida“, geschrieben nach einem Ersten Weltkrieg, waren für Mayer auch eine Selbstbegegnung mit dem einstigen jungen, nun alten Mann, der 1985 anlässlich der großartigen Münchner Inszenierung Dieter Dorns über sein „Leben mit Trolius und Cressida“ mit Blick auf die 20er Jahre Auskunft gab.

„Shakespeare und die Deutschen“ bietet also, konzis wie gewohnt, sprachmächtig wie eh und je, eine Folge von genau gezeichneten Bildern aus der deutschen Shakespearomanie – und Shakespeare-Kritik: von einem kaum gekannten Shakespeare über Lessings und J.E. Schlegels ernsthafte dichtungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Dramatiker, zum Helden der Stürmer, Dränger und Rebellen (Schiller und Co.), natürlich auch der Romantiker, zu Goethes reizvoll gebrochenem Shakespeare zum idealisierten, schließlich realistischen, politisierten (Marx), expressionistischen (Georg Heym) und noch von den Nachlebenden eines Zweiten Weltkriegs benutzten Shakespeare, bis hin zum jüngst vestorbenen Martin Walser. Dass Mayer dem Shylock in seinem bedeutenden „Außenseiter“-Buch und dem Caliban in seinem „Unglücklichen Bewusstsein“ zwei wesentliche Kapitel einräumte (die in der Auflistung der sonstigen Shakespeare-Texte seltsamerweise ebenso wenig genannt werden wie seine Rezension des kardinalen Shakespeare-Buchs von Jan Kott), muss nicht verwundern. Er selbst hatte ja Teil an der Auseinandersetzung mit einem unvergleichlichen Dichter. Seine sekundärliterarische Analyse des deutschen Vergnügens, manchmal auch des Leidens an Shakespeare, hat somit allen Anspruch darauf, als Zeugnis einer sehr besonderen deutschen Selbsterkenntnis im Zeichen der deutsch-jüdischen Kulturverflechtungen Ernst genommen zu werden. Ganz abgesehen vom Vergnügen, einen bislang unbekannten Text Hans Mayers endlich lesen zu können.

Man sollte ihn jedem der illiteraten Ideologen in die Hände drücken, die gerade das Wort vom „deutschen Volk“ im Mund führen, ohne im Geringsten zu wissen, was es mit dem von Mayer sehr geschätzten und genau gekannten Reichtum deutscher Dichtung, Kulturkritik und Sprachkunst auf sich hat.

Hans Mayer: Shakespeare und die Deutschen. Eine Sendefolge. Hrg. Von Christa Jahnson. LIT Verlag, 2023. 160 Seiten. 29,90 Euro.

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