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Ein Gesamtkunstwerk

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Händels „Flavio“ beim Festival „Bayreuth Baroque“

Auch deshalb war die Eröffnungsproduktion des „Bayreuth Baroque“ 2023 im ausverkauften Haus ein immenser Erfolg: weil sich, wie im sog. richtigen Leben, Komik und Trauer die Waage halten, wie’s schon in der venezianisch geprägten Opera seria der Händel-Zeit die Regel war. Es ist zwar weniger die Musik als die Dramaturgie und das Libretto Nicola Hayms, die für das chiaroscuro, das Hell-Dunkel einer Handlung sorgen, die auf den ersten Blick wie ein schablonenhaftes Lehrstück aus der Librettofabrik eines x-beliebigen Opernbuchautors des 18. Jahrhunderts daherkommt. Doch weiß man nie, ob sich in den – von HEUTE aus gesehen – schablonenhaften Handlungen und Personenkonstellationen nicht doch mehr verbirgt als die Variante einer Variante längst erprobter Opernnormen. Mag sein, dass der Versuch des Regisseurs, der gleichzeitig künstlerischer Leiter und Sänger beim Festival ist, die fantastisch zugeschnittene Handlung um den Langobardenkönig Flavius Cunicpertus in Bezug auf die englische Königs- und Herrschaftsgeschichte des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu dechiffrieren – mag sein, dass dieser Versuch, die Machenschaften am langobardischen Hof mit denen bei den Stuarts und ihren Gegnern zu identifizieren, vielleicht überpointiert erscheint. Am Ende ist es unwesentlich, welche politischen Gründe Hayms Libretto zu Grunde liegen – denn die Inszenierung wirkt durch ihre Bilderpracht, ihren Witz, ihre Sensibilität gegenüber den Schicksalen der tragisch Liebenden auch ohne jegliches Hintergrundwissen. Nur gab der Verweis auf die Epoche des Hochbarock dem Regisseur wie dem Ausstattungsteam (dem Bühnenbildner Helmut Stürmer, der Kostümgestalterin Corina Grămoşteanu, nicht zuletzt dem Lichtdesigner Romain de Lagarde) die Möglichkeit, im Ambiente der Stuart-Zeit zu schwelgen. So gesehen, ist die Produktion – wie immer beim Bayreuth Baroque – schon für die Unmusikalischen unter den Musikfreunden eine Pracht.

Denn Opern, die 2023 genau 300 Jahre auf dem Buckel haben, sind nicht per se von Gestern. Es ist immer wieder erstaunlich, in den ältesten Werken des Genres „Oper“ Aktuelleres, Bedrängenderes, Rührenderes zu bemerken als in manch Werk des 19. und 20. Jahrhunderts. Natürlich gehorchen die Aktionen, in die die Librettisten ihre Figuren gestellt haben, den sozialen Normen eines Zeitalters, das von denen der westlichen Moderne der Gegenwart denkbar weit entfernt sind. Und doch offenbart sich in den Affekten, die durch eben jene Normen provoziert und gelenkt werden, noch unsere eigene Gefühlswelt. Sie ist reduzierbar auf die einfachen Leidenschaften namens Liebe, Hass, Eifersucht, Zuneigung, Großmut, Trauer und Freude. Innerhalb dieses gewaltigen Rahmens zeigt uns die Oper, zuerst transportiert durch die Musik, wie heutig das Alles ist. Das Publikum kapiert‘s, erfreut sich an den lyrischen und dramatischen Arien, den Liebesduetten und den Rachemonologen – und klatscht am Ende den Sängern und dem Regieteam vehement zu. Chapeau – mit dem „Flavio“ gelang dem Bayreuth Baroque wieder ein Coup.

„Flavio“ gehört trotz seiner nicht besonders intensiven Karriere auf den Bühnen der Welt zu den Meisterwerken Händel. „Flavio“: das ist eine Mischung aus einer dreiviertel erfundenen Langobarden-Story und jenem Ehrkonflikt, der in Pierre Corneilles „Cid“ Weltliteratur wurde. Ein nicht besonders moralischer, ja libertinärer König verliebt sich in eine Frau (Teodata), die wiederum einen Anderen liebt; ein junger Mann (Guido) liebt, was auf Gegenseitigkeit basiert, eine junge Frau (Emilia), tötet aus Ehrgründen den Vater seiner Geliebten (Lotario), weil der den Vater jener Frau (Teodata) ohrfeigte, die in einen Mann (Vitige) verliebt ist, der sich, weil der König (Flavio) sie liebt, nicht öffemtlich zu ihr bekennt – bis das Lieto fine, trotz auf der Bühne stattgefundenem Mord, am Ende alles ins Reine setzt. Da ist viel Platz für zutiefst bewegende Schmerzensarien, balsamische Duette und hasserfüllte Furioso-Arien, auch für einen unbewussten Vorverweis auf den „Tristan“ und dessen Erledigung eines höfischen Ehrenkodexes. In einem der rührendsten Momente des Abends, in dem die Tränen nur so fließen, fordert der Vatermörder seine Geliebte auf, ihn zu töten, was natürlich nicht gelingt, weil die Verfallenheit der Geschädigten denn doch zu groß ist, als dass sie sich nicht wieder in die Arme fielen. Da in diesem Augenblick Julia Lezhneva und Max Emanuel Cencic auf der Bühne stehen, genauer: liegen, muss gar nicht erst nach der historischen Bindung der Oper gefragt werden. Die Szene spricht für sich – und reißt das Publikum emotional mit.

Gelegentliche rohe Akzente gehen auf das Konto des Komponisten. Das Orchester Concerto Köln spielt unter Benjamin Bayl einen leichtgewichtigen wie drängenden, genau akzentuierten wie entspannten Händel heraus. Zwischendrein gepackt: Händelsche Orchester-Ent‘acts, die so geschickt aufs Instrumentarium abgestimmt wurden, dass man sie für integrale Bestandteile der Partitur halten könnte, deren Werkcharakter in der Händel-Ära eh latent hypothetisch ist. Julia Lezhneva ist wieder die Koloraturen-Königin des Abends, die ihre Variationen als Kadenzen in die Arien einstreut. Drei Counters beleben den Abend in hohen Tönen: der butterweiche Flavio des Rémy-Brès-Feuillet, der schärfer artikulierende Vitige des Yuriy Mynenko, der Giulio des Max Emanuel Cencic. Monika Jägerová verfügt über einen betörenden Alt, mit dem sie die schillernde Partie der Teodata interessierend ausfüllt. Schließlich die beiden exzellent besetzten Streithähne Ugone und Lotario: Fabio Trümpy und Sreten Manojlovic; Händel gab besonders Letzterem die Gelegenheit zu bassbaritonalen Aufruhrsequenzen.

„Flavio“ bleibt ein Gesamtkunstwerk, in dem sich tiefe Emotionalität, hintersinniger Humor, lyrischste Schönstrecken und dramatisch gut motivierte Handlungen im wahrlich bildschönen Spiel- und Aufführungsraum ideal verschränken: dank Cencic, „seinen“ Musikern und Sängern und dem Genie der Vermittlung eines spannenden Werks.

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