Der Steppenwolf im Nürnberger Staatstheater
Natürlich haben wir es beim Nürnberger Steppenwolf nicht mit einer vertanzten Nacherzählung des Romans zu tun. Dass sich Goyo Montero nicht damit begnügt, die Handlung grob zu reproduzieren, versteht sich von selbst, oder anders: Sein Steppenwolf ist der Steppenwolf des Choreographen, nicht des Romanciers Hermann Hesse. Wer den Roman schätzt, sollte ihn lesen – und sich ins Nürnberger Opernhaus begeben.
Was wie ein Widerspruch anmutet, ist schon Teil des Konzepts – denn Hesses Steppenwolf hat es elementar mit den Widersprüchen zu tun, die der Autor um sein 50. Lebensjahr herum mit sich, seinem eigenen Steppenwolf und seinem eigenen Bürger, darüber hinaus mit seinen vielen anderen Ichs (das wird oft vergessen) in sich ausfocht: bis zum Rand des Selbstmords, wie er mehrmals betonte. Dass der Roman mit seiner Kulturkritik gerade junge und mittelalte Männer zu faszinieren vermochte und vermag, liegt auf der Hand; die midlife crisis ist, so betrachtet, eine Erfindung des höchst sensiblen Autors, dessen Werk nicht ohne seine (Auto-)Biographie zu haben ist. Montero las, wie er sagte, das Buch mit 13 Jahren, dann wieder in der Corona-Zeit; nun hatte er die Gelegenheit und den Antrieb, sich dem komplexen Werk als Choreograph und Regisseur künstlerisch anzunähern: nicht als Vollzieher des letzten Willens Hermann Hesses, sondern als autonomer Künstler, der seine Arbeit beständig zwischen seinem tiefsten Innersten und dem, was wir „Gesellschaft“ nennen, ansiedelt. Es ist durchaus kein Zufall, dass er irgendwann auf den „Steppenwolf“ kommen musste, denn Monteros Hauptmotiv – das Widerspiel von Individuum und Kollektiv – hat mit dem Roman eine seiner interessantesten Variationen zu erfahren.
Muss man Hesses Roman kurz zuvor gelesen und/oder in Erinnerung haben, um die Neuproduktion zu „verstehen“? Ja – und Nein. Denn Monteros Fantasie, die er zusammen mit seinem Hauskomponisten Owen Belton, seinen Bühnengestaltern Leticia Gañan und Curt Allen Wilmer sowie dem Videodesigner Álvaro Luna und seinem Lichtschöpfer Martin Gebhardt und natürlich seinem 28köpfigen Ensemble ins Spiel bringt, ist stark genug, um Rätsel- und Bruchstückhaftes frei walten lassen zu können. Die Lektüre des „Librettos“, das im Verlauf des 80 Minuten kurzen Abends gesprochen und dessen Text im Programmheft abgedruckt wird, erlaubt uns fragmentarische Einblicke in die Welt des Harry Haller. Eine konsistente Interpretation des Stoffs ist damit kaum möglich; wäre es so, bräuchte es kein „Tanzstück“, wie die Gattungsbezeichnung lautet, ja: Oft scheint sich die Szene weit von allem, was Hesse in seinem seinerzeit zersplitterten Leben fand und weiterhin erfand, zu entfernen. Montero schaltete eine zusätzliche Ebene ein, indem er auf einen „Steppenwolf“ der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verwies: auf Josef Beuys und seinen „erweiterten Kunstbegriff“. Wer Beuys’ Arbeiten nicht kennt, könnte rätseln, wieso die Compagnie in einer längeren Szene mit Äxten hantiert oder eine grazile Frauenfigur in einem Ganzkörperanzug mit goldener Maske auftritt. Das Herumwuseln eines bepelzten Mannes vermag jedoch die Beziehung zwischen Hesses teilwölfischer Hauptfigur und Beuys’ gelegentlichem Habitus zu stiften, ohne dass man wissen müsste, wer Beuys war. Am Ende bleiben die Anspielungen auf Beuys und seine Filz-Ästhetik (die Türen des Magischen Theaters) so vereinzelt, dass die Herbeizitierung des großen Inspirators wohl eher für Montero als für den Zuschauer relevant ist. Was bleibt, ist ein wildes wie konzentriertes, aktionistisches wie abgezirkeltes, kontrolliertes wie enthemmtes Tanztheater, das seine Impulse aus den verschiedensten Erlebnisbereichen ziehen konnte. Ob man Hesse oder Beuys kennt: das ist schließlich unwichtig: zumindest für die, die gerade den Roman gelesen oder sich den Luxus gestattet haben, das Programmheft zu studieren oder die Einführung der Tanzdramaturgin Lucie Machan zu besuchen. Und all diejenigen, die in einzelnen Gesten, Szenen, Begegnungen und Zitaten Hesse-Spuren entdeckten, dürfen glücklich darauf hinweisen, dass es Montero gelungen ist, nach Hesses Steppenwolf kein überflüssiges Handlungsballett, sondern eine persönliche Auseinandersetzung mit einigen Motiven des Romans kreiert zu haben.
Was also sieht man in Nürnberg? Man sieht, sagt Montero, mit einer Ausnahme keine Figuren, die den Personen im Roman zugeordnet werden könnten. Das stimmt, glaube ich, nicht, denn im Lauf des Abends tanzt Paloma Lassere eine Frau, die der Maria (der Geliebten des „Helden“) des Romans so nahe kommt wie Stella Tozzi der Hermine, Harry Hallers geheimnisvollem alter ego, die doch so anders scheint als Harry selbst. Der Witz des Romans besteht ja darin, dass am Ende keine primitive Zweiteilung von Wolf und Bürger, Tier und Mensch behauptet wird. Die Pointe läuft darauf hinaus, die Verschiedenheiten innerhalb eines Menschen nicht als Schizophrenie, sondern als Unendlichkeit von Möglichkeiten und Denk- und Verhaltensweisen festzustellen. Also tanzt auch nicht ein Harry über die Bühne, sondern mehrere. Also agieren Lassere und Tozzi nicht jeweils zusammen mit einem, sondern mit verschiedenen Partnern: im Pas de deux, de trois, de quattre, im Wechsel und wieder im Wechsel, ganz so wie auf einem der Künstler- und Maskenbälle, auf denen Harry Haller ins Leben eingeführt wird. Wo Wolf und Mensch eins werden, tanzen zwei Tänzer buchstäblich unter einem Mantel, wo der Mensch Wolf wird, bewegen sich die Compagnie-Mitglieder mit animalischen Masken über die Bühne. Eines der wichtigsten Elemente des Romans ist der Spiegel, die Bühne kommt ohne sie nicht aus. Und so, wie der Steppenwolf aus Widersprüchen zusammengesetzt ist, werden sie ausgetanzt: hier die Rosen, dort die Äxte. Hier die Liebe, dort der Hass. Hier die Wildheit, dort die zärtliche Begegnung. Hier das stumme Lachen Harrys, dort das grelle Gelächter der gesamten Compagnie, mit der Harry ins schöne, widersprüchliche, oberflächliche und gleichzeitig tiefsinnige Leben zurückgeholt wird und das Spiel fast endet – bevor die Mienen ernst erstarren. Natürlich spielt auch das Magische Theater eine Rolle. Auf der LED-Fläche sehen wir Reflexionen des Kriegs und des Kampfs des Menschen gegen die Maschinen, gelegentlich auch den Wolf, manchmal uns selbst: wenn die Kamera live auf uns gerichtet wird. „Immersion“, wie das Modewort lautet, ist auch sonst ein wenig, wenn das Publikum (natürlich nur spielerisch) vor die Entscheidung gestellt wird, Harry auszulachen. Harry ist am Ende Oscar Alonso, der mit dem „anonymen Zuschauer“, einer Beuys-Figur, seinen teuflischen wie engelhaften Widerpart, seinen Helfer zurück ins Leben und Begleiter durchs Magische Theater gefunden hat. Victor Ketelslegers spielt also ungefähr die Rolle, die der Saxophonist Pablo – der mit den „Tieraugen“ – im Roman einnimmt: zunächst im mindgrünen Laboranzug, dann im rötlichen Bodysuit: ein fantastisches Geschöpf, das sein Double auf der LED-Fläche findet, wie ersonnen vom Autor des Faust, der neben dem kardinalen Mozart ja auch eine Hauptrolle in Harry Hallers Traumtheater spielt. Ist dieser „Zuschauer“, der durchaus, wie Pablo, aktiv an Harry Hallers Bildungsweg beteiligt ist, gleichzeitig eine Erinnerung an den jungen Goethe und an Mozart, also an die „Unsterblichen“ in Harrys Pantheon? Kann sein, es muss nicht sein, es kann gedacht werden. Mozart erklingt übrigens nicht. Es wäre auch zu naheliegend gewesen, auch wenn Hesse die Komturszene des Don Giovanni erwähnt. Wir hören auch nicht eines der F-Dur-Concerti-grossi Georg Friedrich Händels, auch wenn es vom Erzähler des Steppenwolf erinnert wird. Allerdings enthält die „Ball“-Szene einige Takte einer Musik, die in ihrer Motorik und Melodik von fern an sog. Barockmusik erinnert. Ansonsten klingt Owen Beltons Soundtrack wieder wie reinster Owen Belton: düster, rhythmisch prägnant, geräuschhaft, mitreißend.
Etwas Besseres kann vielleicht nicht über ein Tanzstück „nach“ einem Roman gesagt werden, in dem sich jeder Zuschauer, jede Zuschauerin in irgendeiner Szene wiedererkennen könnte, wenn er das Gefühl für die verschiedenen Personen, die in ihm wohnen, nicht verloren hat – und wenn er sich auf das Vergnügen einlässt, in einem Tanztheater „nach“ eine bedeutenden Roman diesen selbst nur in Spurenelementen, vielleicht aber auch ganz nah zu erleben.
Foto: (c) Jesús Vallinas