DAS BAYREUTHER THEATER
Bayreuth, [Samstag] den 2. August 1891
Die dargebrachte Oper war Parsifal. Madame Wagner erlaubt keine andere Aufführung als die in Bayreuth. Die gesamte Ouvertüre, so lang sie auch war, wurde vor einem dunklen Haus bei geschlossenem Vorhang gespielt. Sie war exquisit, sie war köstlich. Aber gleich danach kam natürlich der Gesang, und es scheint mir, dass nichts eine Wagner-Oper für den Ungeübten vollkommener und befriedigender machen kann als das Weglassen der Gesangsstimmen. Ich wünschte, ich könnte einmal eine Wagner-Oper als Pantomime erleben. Dann hätte man die reizende Orchestrierung rein und klar vor sich, um sie zu hören und seinen Geist darin zu baden; die verwirrend schöne Szenerie, um seine Augen daran zu berauschen; und das stumme Agieren könnte diese Freuden nicht trüben. Denn es gibt selten etwas in einer Wagner-Oper, das man mit einem so kühnen Begriff wie Schauspielerei bezeichnen würde; in der Regel würde man nur ein paar schweigende Menschen sehen, von denen einer stillsteht und der andere Fliegen fängt. Natürlich meine ich nicht, dass er tatsächlich Fliegen fängt; ich meine nur, dass die üblichen Operngesten, die darin bestehen, erst die eine, dann die andere Hand in die Luft zu strecken, eine Art Sport suggeriert, von dem ich spreche, wenn der Ausübende sich strikt auf sein Aufgabe konzentriert und keinen Ton von sich gibt. Im Parsifal gibt es einen Einsiedler namens Gurnemanz, der auf der Bühne an ein und der selben Stelle steht und stundenweise übt, während die ein oder eine andere Figur des Ensembles das so lange wie möglich erträgt,und sich dann zum Sterben zurückzieht.
Dienstag [3. August]
Gestern wurde die einzige Oper gespielt, die ich je mochte – eine Oper, die mich immer in den Wahnsinn getrieben hat, wenn ich sie hörte – Tannhäuser. Ich sah den letzten Akt von Tannhäuser. Ich saß in der Düsternis und der tiefen Stille und wartete – eine Minute, zwei Minuten, ich weiß nicht genau, wie lange –, dann begann die sanfte Musik des verborgenen Orchesters ihre reichen, langen Seufzer unter der fernen Bühne hervorzuhauchen, und nach und nach teilte sich der Vorhang in der Mitte und wurde sanft zur Seite gezogen, wodurch der dämmrige Wald und ein Bildstock mit einem weiß gekleideten Mädchen, das betete, und einem Mann, der daneben stand, sichtbar wurden. Bald hörte man den edlen Chor der Männerstimmen näher kommen, und von diesem Augenblick an bis zum Schließen des Vorhangs war es Musik, nur Musik – Musik, die einen vor Vergnügen trunken macht, Musik, die einen dazu bringt, Bargeld und Pilgerstab zu nehmen und bettelnd um die ganze Welt zu ziehen, um sie zu hören.
Denjenigen, die vorhaben, nächstes Jahr in der Wagner-Saison hierher zu kommen, möchte ich raten: Bringt euer Essgeschirr mit. Wenn ihr das tut, werdet ihr in alle Ewigkeit dankbar sein. Wenn ihr es nicht tut, werdet ihr einen harten Kampf führen müssen, um in Bayreuth nicht zu verhungern. Bayreuth ist nur ein großes Dorf und hat keine besonders großen Hotels oder Gasthäuser. Die wichtigsten Gasthäuser sind der Goldene Anker und die Sonne. In beiden Lokalen bekommt man eine ausgezeichnete Mahlzeit –nein, ich meine, man kanndort hin gehen und sehen, wie andere Leute etwas zu Essen bekommen. Das ist kostenlos. In der Stadt gibt es viele Restaurants, aber sie sind klein und schlecht, und sie sind überfüllt mit Gästen. Man muss sich Stunden vorher einen Tisch sichern, und wenn man ankommt, ist er oft schon besetzt. Diese Erfahrung haben wir auch gemacht. Mein Sippe hat alle möglichen Lokale ausprobiert – einige außerhalb der Stadt, ein oder zwei Meilen entfernt – und hat nur kleine Häppchen und Reste erwischt, aber in keinem Fall eine vollständige und zufriedenstellende Mahlzeit. Verdaulich? Nein, im Gegenteil. Diese Reste werden als Souvenirs an Bayreuth dienen, und in dieser Hinsicht ist ihr Wert nicht zu überschätzen. Fotos verblassen, Krimskrams geht verloren, Wagner-Büsten gehen zu Bruch, aber wenn man einmal ein Bayreuther Restaurantessen in sich aufgesogen hat, gehört es einem und ist Eigentum, bis die Zeit gekommen ist, deine eigenen sterblichen Reste einzubalsamieren.
Donnerstag [5. August]
Für die Hauptrollen halten sie zwei Sängerteams bereit, von denen eines aus den berühmtesten Künstlern der Welt besteht, mit Materna und Alvary in der Hauptrolle. Ich nehme an, dass ein doppeltes Team notwendig ist; ein einzelnes Team würde zweifellos in einer Woche an Erschöpfung sterben, denn alle Stücke dauern von 4 Uhr nachmittags bis 10 Uhr abends. Fast die gesamte Arbeit fällt auf das halbe Dutzend Hauptsänger, und offenbar wird von ihnen verlangt, für das Geld so viel Lärm wie möglich zu machen.
Gestern war die Oper Tristan und Isolde. Im ersten Akt sind alle Plätze besetzt, im letzten ist kein einziger frei. Diese Oper von Tristan und Isolde hat gestern Abend allen gläubigen Zeugen das Herz gebrochen, und ich weiß von einigen, die von vielen gehört haben, die danach nicht schlafen konnten, sondern die Nacht hindurch geweint haben. Manchmal fühle ich mich wie ein Verrückter in einer Gemeinschaft von Verrückten; manchmal fühle ich mich wie ein Blinder, wo alle anderen sehen; wie ein tappender Wilder im Kollegium der Gelehrten, und immer, während des Gottesdienstes, fühle ich mich wie ein Ketzer im Himmel. Aber auf keinen Fall übersehe oder verharmlose ich jemals die Tatsache, dass dies eine der außergewöhnlichsten Erfahrungen meines Lebens ist. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe noch nie etwas so Großes, Schönes und Echtes gesehen wie diese Andacht. Diese Verehrer wollen ihre Hingabe in einer Atmosphäre ohne Makel oder weltliche Verschmutzung erleben. In diesem abgelegenen Dorf gibt es keine Sehenswürdigkeiten zu sehen, es gibt keine Zeitung, die die Sorgen der fernen Welt hereinträgt, es ist nichts los, es ist immer Sonntag.
Freitag [7. August]
Die gestrige Oper war wieder Parsifal. Meine Sippe gingen hin und sie zeigen nun einen deutlichen Fortschritt in der Wertschätzung der Oper. Ich aber ging auf die Jagd nach Reliquien und Erinnerungen an die Markgräfin Wilhelmina, die ihrer unvergänglichen Memoiren. Ich bin ihr zu Recht dankbar für ihre (unbewusste) Satire auf Monarchie und Adel, und deshalb ist mir nichts gleichgültig, was ihre Hand berührt oder ihr Auge betrachtet hat. Ich bin ihr Pilger; der Rest der Schar hier sind Wagnerianer
Auszug aus: „Am Schrein des Heiligen Wagner“ – Erschienen in der ‚New York Sun‘ am 6. Dezember 1891. Mark Twain (1835-1910) bricht im Juni 1891 mit seiner Familie zum wiederholten Male nach Europa auf, verbringt die nächsten drei Jahre vorübergehend dort und besucht 1891 auch mehrere Vorstellungen der Bayreuther Festspiele.