„Ich kenne das Stück“, sagt der Kritiker in der 26. Reihe. Nun ja, ob man den „Ring des Nibelungen“ wirklich „kennen“ kann, sei dahingestellt. Hagens Frage: „Kennst du genau den Ring“ zielt ja nicht grundlos auf eine Irritation ab, die in besonderem Maße bei diesem Großwerk des Musiktheaters stets aufzutreten pflegt, wenn man sich Text und Musik mal wieder genau anhört und -sieht. Nicht allein, dass in jeder neuerlich erlebten „Ring“-Aufführung dem sog. Kenner Töne ins Ohr klingen, die er garantiert noch nie gehört hat, auch wenn sich das Orchester nicht verspielt. Der „Ring“ bleibt, je nach individueller Draufsicht, ein Wunderwerk an Ausdeutungs- und Erzählmöglichkeiten. Dass man ihn interpretieren muss, um ihn erst einmal, nicht allein für unsere Gegenwart, klar zu machen, sollte eine Binsenweisheit sein – und dass er je nach neuer wie möglicher Deutung sich vom vorhergehenden „Ring“ mehr oder weniger stark unterscheidet dürfte selbst dem klar sein, der sich nach den „alten“ Inszenierungen – früher war ja bekanntlich alles besser – oder auf Anhieb „stimmigen“ Interpretationen so sehnt wie Alberich nach dem Ring.
Schaut man sich Valentin Schwarz‘ Inszenierung zum zweiten Mal an, muss es einen wieder wundern, dass sich am Premierenabend der „Götterdämmerung“ 2022 der Unmut großer Teile des Publikums so vehement gegen das Regieteam richtete – als hätte man ihm ein Spielzeug aus der Hand gerissen. Um Kinderspiele und -Sehnsüchte geht es nicht zuletzt in der „Walküre“, die bekanntlich (bekannt für die, die das Stück kennen) im ersten Zentrum der Erzählung stehen. Wieder begeistert die Traumretrospektive, mit der sich Siegmund und Sieglinde aus der realen Welt in die irreale begeben. Schwarz hat die magische Szene leicht verändert; nun macht er auch dem Begriffsstutzigen deutlich, dass es sich um eine Vision, nicht um eine Wirklichkeit handelt. Dafür genügen neue, von Andy Besuch entworfene Kostüme für die Kleinen Siegmund und Sieglinde, die nun mit Glitzerkleidung und Gesicht ihre Zuneigung ins Bild bringen – womit bereits ein direkter Bezug zu den Horror-Nannies gegeben wird, die im Vorspiel der „Götterdämmerung“ als Nornen in eben diesem fantastischen Kinderzimmer auftreten werden. Die Szene funktioniert auch heuer schon deshalb, weil mit Klaus Florian Vogt und Elisabeth Teige ein ideales wie zurecht umjubeltes Zwillingspaar auf der Bühne steht. Eigentlich könnten sie auch ohne jegliche Dekoration agieren, um die Geschichte vollgültig zu erzählen (was nicht als Legitimation für die Abschaffung der Regie verstanden werden sollte). Vogts heller, inzwischen an Charakterausdruck gewonnener Tenor und Teiges ergreifender Sopran, in dem sich Leidenschaft mit Innigkeit paart: diese beiden Sänger, die noch dazu gut spielen, SIND bereits das Wälsungen-Drama, mit dem schon deshalb JEDE Inszenierung klappt, weil Vogt den Siegmund nicht als schweren Heldentenor, sondern als jugendlichen Helden mit lyrischstem Gespür anzulegen weiß. Sein Lenz-Lied und Sieglindes Einsatz sind, „auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden“ (wie ein großer Wagner-Deuter mal sagte), am Ende inszenierte Orchesterlieder. Dass das Orchester der Bayreuther Festspiele unter seinem Dirigenten Pietari Inkinen nicht dem berühmten Affen Zucker gibt, sondern eine ausgesprochen lyrische, seidenweiche, fein abgestimmte „Walküre“ selbst dort dirigiert, wo emotionales Feuer die Partitur verbrennen könnte, ja: für manch Zuhörer vielleicht sogar müsste, macht gerade aus dem ersten Akt ein Gesamtkunstwerk einsamen Ranges. Der Komponist selbst sprach während der Proben im Jahre 1876 vom „orchestralen Kothurn, auf welchem seine Sänger stehen“ – das aktuelle Orchester brüllt nicht, sondern bietet den Sängern genau diesen Schaftstiefel. Dass mit dem Dritten im Bunde, also dem Hunding des Georg Zeppenfeld, einer der edelsten betrogenen Ehemänner der Bayreuther „Ring“-Bühnengeschichte steht, macht die Terzett-Besetzung schlichtweg ideal.
Gleiches könnte man auch vom größten vokalen Lastenträger dieser Aufführung sagen, würde nicht seine Artikulation gelegentlich befremden. Und doch… Und doch steht mit Thomas Konieczny ein fast idealer Wotan auf der Bühne, weil er das macht, was Wagner vorschwebte: deutlich spielen, mit ausdrucksstarker Gestik und seinem absoluten Einsatz für die Rolle des moralisch gebrochenen Gottes, der alles Mögliche ist: selbstgerecht und leidend, stolz und liebevoll, tyrannisch und mitleiderregend. Ovationen also auch für ihn. Sein Monolog, der sogar von vielen sog. „Walküre“-Freunden gefürchtet werden mag, gehört mit dem Schluss zu den dramatisch-emotionalen Höhepunkten der Akte 2 und 3. Wer hier noch den Feuerring vermisst, sollte vielleicht zum Augen- und Ohrenarzt gehen.
Christa Mayer ist wieder die sehr präsente Fricka, als Grand Dame die Fünfte im „Walküre“-Krimi, Catherine Foster eine leidenschaftlich erregte, im Schlussakt packende und sehr hojotoholustig jauchzende Brünnhilde, Igor Braun als Seelenbegleiter Brünnhildes ein wunderbarer Grane, das Walküren-Oktett ein wenig unausgeglichen, wenn auch wieder sehr heiter. Kein Wunder: die Fallhöhe zum Finale des 3. Akts wird sauber vorbereitet. Wo die im Beauty-Salon sich tummelnden, vom Vater abhängigen Frauen mit ihrem zirkusmäßigem Kriegsgeschrei in tiefem Unernst verharren, wirkt Brünnhildes revolutionäre Liebestat umso stärker. Übrigens: Die Frage, ob es Sinn macht, dass Sieglinde schon vor dem Zusammentreffen mit ihrem Bruder von wem auch immer schwanger ist und ob sie das „Ersatzkind“ des „Rheingold“ sein könnte, ist angesichts ihrer tiefen und deutlich gezeigten Beziehung zu Siegmund weniger wichtig als der Umstand, dass so gut wie jede Motivation in dieser „Ring“-Deutung tatsächlich genau auf Text und Musik passt. Wo der Text Abschliffe erleidet, ist er nicht größer als in jeder anderen „Ring“-Inszenierung. Wo Rätsel bleiben, bleibt auch das Wagner-Theater lebendig, vorausgesetzt, es wird so gesungen und gespielt wie an diesem Abend.
Also kein Problem für Leute, die den „Ring“, nun ja, kennen.