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Ein packender Abend

TheaterEin packender Abend

Die Orestie in der Studiobühne

Früher, als das Wünschen noch geholfen hat, gab es eine „Orestie“, die außer für die, die schon damals das dekonstruktive Theater mehr als irgendeine „Werktreue“ schätzten, keine Wünsche offen ließ. Berlin 1983, alte Schaubühne am Halleschen Tor. Wir saßen drei Abende lang am Boden und waren Zeugen davon, wie der Atridenfluch erfüllt und gelöst wurde. Die Besetzung war äußerst edel (Jutta Lampe als Athene! Die Clever als Klytaimnestra, Udo Samel als Orest, Michael König als Apollon usw. usw.), der Text von Peter Stein, ungekürzt, ins Deutsche gebracht worden, wobei auch einige altgriechische Brocken für den Chor zu Boden fielen. Und obwohl schon damals reichlich Theaterblut floss – kein Wunder, hatte der erste große Dramatiker doch den Mord an Agamemnon nicht nur erzählen lassen -, war es das, was man damals und in der Erinnerung als schöne, ja „herrliche“ Produktion bezeichnen muss. Die Sprachmächtigkeit war jedenfalls gewaltig – und unvergesslich, das Theater der Diskurse und der Emotionen lebte im Geist des Autors so hell auf, wie Apollon im blendenden Gegenlicht der Sonne damals nackt erschien.

Werktreue, ungekürzt, Sprachgewalt: das sagt noch nichts über die Relevanz einer theatralen Interpretation des ältesten noch im Repertoire verankerten Stücks der Theatergeschichte aus. In der Studiobühne machen sie nicht alles, aber vieles anders – und sie machen es richtig. Denn das Stück, das 2500 Jahre auf dem Buckel hat, gehört zu jenen „Klassikern“, die ihre Wertigkeit weniger (Ausnahmen wie die in der Studiobühne von Anno Stein belegen die Regel) aus der wörtlichen Übernahme im Geist eines „Klassiker“-Theaters als aus der permanenten Befragung gewinnen. Eine „Orestie“, vom Blatt gespielt, kann gut sein. Eine „Orestie“, aufgerauht, sprachlich verändert, szenisch gebrochen, kann sehr gut sein.

Es beginnt schon im Vorsaal – und endet (fast) im Zuschauerraum. Es sind kaum die „normalen“ Spieler der Studiobühne, die uns die Geschichte Orests und Elektras, Klytaimnestras und Kassandras, Aigists, Athenes und Apollons erzählen, sondern fast allesamt junge Leute, die sich mit großem Aufwand quasi selbst in das Drama einbrachten. Iphigenie, mit deren Opfer die unmittelbare Vorgeschichte der Tötung des Vaters durch die Ehefrau eingeleitet wird, ist eine Frau aus der Ukraine, die immer wieder in ihre Sprache ausbricht. Vitalina Nizhynska sitzt auch am Klavier, um gelegentlich eine schräge Variation der Mondscheinsonate zu Gehör zu bringen; der Mond spielt vor allem im ausnehmend guten Programmheft eine Rolle – Nacht muss es sein, wenn die Menschen fallen. Nizhynska führt auch in das Stück ein, indem sie, mit Heiner Müllers summarischem wie poetischem „Elektratext“ im Gepäck, die Geschichte des Fluchs auszubreiten beginnt. Wir werden am Abend immer wieder Bruchstücke daraus hören, die uns fortlaufend über den Fortgang der blutigen Ereignisse unterrichten, die wir gerade auf der Bühne sehen. Manchmal geraten, wo es die emotionale Ausnahmesituation der Geschädigten erlaubt, derbe Sprachfloskeln der Gegenwart in den Text, aber über weite Strecken wird die „klassische“ Sprache, die, da deutsch, schon meilenweit vom Original entfernt ist, schlicht und einfach gut gesprochen; der kleine Chor ist schon sehr exzellent. Zwei Videos bringen u.a. Eduard Zhukov als Thyestes, der sich als das Böse an sich definiert, auf die Hinterbühne, vorn ist Claudia Stühle eine verstehbare Mannesmörderin und Jael Gallert ein weiblicher Orest, der sich mit voller Verve in die Seelenqualen hineinbegibt. Aischylos’ Grundfragen geraten nie aus dem Blick: die Fragen der Verantwortung, des Rechts, der Rache und der abgrundtiefen menschlichen Bosheit, die durch Texte von Kleist und anderen erläutert, begleitet, vertieft werden.

Bevor die Aufführung ihre Premiere erlebte, fanden sich die Spieler und Spielerinnen mit ein paar Profis der Studiobühne zusammen, um in zwei Workshops jenseits der Philologie die Sprachkraft des Stücks für sich zu entdecken. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Nacherzählung und scheinbar improvisierter Performance, die mit den Mitteln des heutigen Theaters die Fragen ins Heute fortsetzt, dabei nicht immer auf den genauen Buchstaben setzt. Wenn der Chor und Vitalina Nizhynska deutsch und gleichzeitig ukrainisch übereinander sprechen, wird’s zweifellos wirr – eine gute Metapher für die Unmöglichkeit der eindeutigen Verständigung. Der Schluss, der bei Aischylos einer sein soll, besteht also nicht aus einer Entsühnung des Orest durch das Eingreifen der schönen und klugen Göttin (schön abgehoben: Emily Stolte), auch nicht aus einer Befriedigung der rachesüchtigen Erinnyen. Es versammelt in einem Grand Finale noch einmal alle möglichen Positionen: zwischen Hoffnung und Depression, Zukunftsgewandtheit und Verzweiflung – und so, wie Klytaimnestra alles Recht und alles Unrecht auf ihrer Seite hat und der schreckliche Gott (glänzend: Alex Leschinsky) dem Muttermörder die Hand führte, denken die Akteure den Aischylos weiter, um den Gegensatz von institutionalisiertem Recht (der bis heute wirksamen Gründung des Areopags auf dem Hügel in Athen, an der wir als Zuschauer am Ende scheinbar Teil haben) und andauerndem Unrecht sehr persönlich zu reflektieren.

Dass nur wenige Besucher diese werkgerechte Interpretation des großen Stücks „frei nach Aischylos“, doch spannend und theatralisch kurzweilig, sehen wollen, ist natürlich schade. Selbst schuld, denkt sich der bewegte Besucher. Schuld? Da wären wir schon bei einer der zeitlosen Fragen, die das Stück und die Spieler aufgeworfen haben. Er ist schon sehr spannend, dieser für Bayreuther Verhältnisse ungewöhnliche und packende Abend.

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