Ein neuer Parsifal im Staatstheater Nürnberg
Ein Stück, drei Geschichten – die Idee ist nicht neu. Dass Wagner, zumal der Parsifal, den Interpreten bis heute Kopfzerbrechen bereitet, ist bekannt. Zuviel an neurotischem Ballast steckt da in seinen Stücken, als dass man nicht immer wieder, jenseits seiner zweifelsfrei genialen Musik, die Frage nach Wagners „Aktualität“ stellen müsste. Die Entscheidung, die drei Aufzüge des Parsifal gleichsam freizustellen, da jeder dieser Aufzüge ein eigenes Stück sein könnte, was den Regisseur und den Dramaturg wie den mündigen Zuschauer von einer Generaldeutung zu dispensieren scheint: sie wurde in Nürnberg verwirklicht, ohne dass doch die Verbindungsstränge zwischen den drei Geschichten gekappt wurden. Die Verbindung aber heißt vor Allem „Kundry“, womit die Eigentümlichkeit der faszinierendsten Gestalt, die der späte Wagner erfand, wieder einmal bestätigt wurde.
David Hermann, der in Nürnberg bereits den Lohengrin und Falstaff inszenierte – zu beiden Arbeiten hat der neue Parsifal seine Verbindungen, so dass man fast von einer Trilogie reden könnte –, lässt Akt 1 im Stil einer zwischen Alt- und Neu-Oberammergau changierenden, ausdrücklich als „Weihspiel“ bezeichneten Szene vor einer von Jo Schramm entworfenen Drehbühne mit Holzhaus ablaufen: mit Blondhaarperücken und ironischen wie gruseligen Einfällen; dem halbverfaulten Titurel und den „Engeln“, eher teuflische Gargoyles als seraphische Lichtgestalten, möchte ich im Leben nicht begegnen. Akt 2 versetzt uns in einem „Bühnenspiel“ scheinbar über die schwarzweiße Bühnenausstattung, art-decohafte Kostümgestaltung Bettina Werners und Projektion in das Nürnberger Opernhaus des Jahres 1925, und der Schlussakt ist ein „Endspiel“, das zwischen Gegenwart und Zukunft angesiedelt ist, ohne die Erinnerungen an den ersten Aufzug vergessen zu machen, ja: Die Bezüge sind so offensichtlich wie gewollt, dass man kaum geneigt ist, die Rede von den drei angeblich verschiedenen Geschichten ernst nehmen zu können. Am Ende läuft eh alles auf das Theater hinaus – auf das Spiel, das, da niemals realistisch, das Theater selbst als Spiel ausstellt. Daher rühren auch die offensichtlichen Zitate: Kundry in allen drei Akten als schwarzgeflügelter, wohl gefallener Engel, eine Erinnerung an Stefan Herheims Bayreuther Parsifal-Figuren, Parsifal im zweiten Akt als Wiederkehr des jungen Siegfried aus Fritz Langs filmischem Nibelungen-Epos von 1924, die versechsfachten stummen Parsifals des „Endspiels“ als massengemäße Mischung aus Geisterjägern und Katastrophenhelfern. Alles Theater, alles schon vermittelt – doch bleibt die Aussage deshalb vage, wie es die Anmerkungen des Dramaturgen Georg Holzer suggerieren? Auf Botschaft sendet sich’s nicht mehr?
Durchaus nicht. Schon die Tatsache, dass jeder Akt einzelne Spielfiguren im Zuschauerraum des Nürnberger Hauses auftreten und mit dem Publikum kommunizieren lässt (köstlich der Stirnkuss des freundlichen Gurnemanz für eine Zuschauerin in der zweiten Reihe) und mit dem technisch leider latent gescheiterten Versuch, während der ersten Verwandlungsmusik ein gewaltiges Tuch zwischen dem obersten Rang und der Bühne über die Köpfe der Zuschauer unbeschädigt hinunterfahren zu lassen, zeugt ja vom Willen, zwischen „Kunst“ und „Leben“ Interferenzen zu ermöglichen. Es funktioniert tatsächlich. Der Abend hat, wie immer man auf den dritten Aufzug mit seinem üblichen Untergangs-Setting schaut, einen spielerischen Reiz, der über manch Klippe einer Konzeptionitis hinweghilft, die für Hermanns Inszenierungen typisch ist. Nicht alles geht hier auf. Wenn der „Darsteller“ des Parsifal sich als Theaterbesucher von 1925 die Bühne erobert und den „eigentlichen“, siegfriedhaften Akteur verdrängt, wenn er sich zu einem Sprachrohr der Intoleranz und sexuellen Verkrampftheit aufschwingt, gegen den die emanzipierte „Darstellerin“ der Kundry immer entsetzter agiert, haben wir es mit einer Unlogik zu tun, die die gebotene Unlogik des Theaterspiels zu Gunsten einer fixen Idee zu etwas sehr Dummem macht. Der Akt endet schließlich im Zusammenbruch der alten, lustvollen, jugendstilhaften Klingsor-Welt, das alte Interieur von 1905 wird, die Projektion macht’s möglich, vernichtet – und finalmente sehen wir auf jenen „gereinigten“, in kühlem Neoklassizismus erstrahlenden Raum, dem das Nürnberger Haus dem Eingreifen Hitlers verdankt. So endet also, lernen wir, die Intoleranz, wenn sie sich mit verklemmter Emphase verbündet. Die Idee ist einfach, neheliegend – und gut. Sie rettet schließlich den Unsinn, der aus dem „theatralischen“ Disput zwischen der Darstellerin der Kundry und dem Darsteller des Parsifal erwuchs.
Danach gehts zunächst abwärts. Endzeit ist angesagt, das Haus des ersten Aufzugs ist nur noch ein Skelett; wer Becketts Endspiel und die aktuellen Verlautbarungen der Wissenschaft kennt, weiß, wie absurd und schrecklich sie ist, doch scheint die Rettung nah zu sein. Wer ist der Gral? Darauf gibt es bekanntlich so viele Antworten wie Menschen. Hier ist es ein Sonnenkollektor, der zu den balsamisch-hymnischen Klängen als Objekt der Anbetung wie der ökologischen Notwendigkeit regenerativer Energien aufgerichtet wird: fixiert an jenen Stäben, die vorher als „Speer“ tituliert wurden. Das ist in seiner Anbindung an die Gegenwart einfach und trivial – aber möglich. Der Gral als zugleich biologische wie spirituelle Lichtquelle: das sahen wir ja schon im ersten Akt. Wie gesagt: Wer ist der Gral? Das sagt sich nicht, kann aber gezeigt werden. Am Ende ist allein Theater.
Dass der Abend „funktioniert“, liegt, bei allen Fragwürdigkeiten, zuallererst an den Sängern und der musikalischen Basis. Das Orchester spielt unter GMD Roland Böer einen schlanken wie dramatisch erfüllten, niemals überhetzten, doch leidenschaftlich erfüllten wie klanglich ausgewogenen (was in Nürnberg heißt: nicht zu lauten) Wagner vom Feinsten, in summa eine ideale Theatermusik, die zwischen Symphonie und musikalischem Schauspiel vollkommen vermittelt. Werden die Motive und gestischen Details der Musik klar herausgearbeitet, ergibt sich die Ausführung doch nicht dem Micky-Mousing; im Großen lauschen wir einem Fluss mit all seinen Ableitungen – mehr Große Oper als Bühnenweihfestspiel. Tadeusz Szlenkier singt, wieder ein wenig zu laut, einen makellosen Parsifal, Jochen Kupfer, wie nur Kupfer ihn zu singen vermag, einen edel artikulierenden Amfortas, dessen Bariton sich in die Tiefen der Amfortas-Partie hineinversenkt. Titurel ist der leicht knörzige, doch deshalb wunderbar passende Nikolai Karnolsky, Patrick Zielcke ein erstrangiger, basstiefer, deutlich artikulierender Gurnemanz, der zurecht großen Beifall einfährt. Anna Gabler ist eine frauliche, dramatisch packende, energische Kundry von hohen Graden; nur Wonyong Kangs Klingsor scheint mir ein wenig zu leicht für diese kurze, doch wichtige Rolle zu sein; hier fehlt die dramatische Durchschlagskraft eines Basses (doch gewiss: die Tessitur dieser Partie, immerhin ein Kastrierter, liegt, für einen Bass, ungewöhnlich und wohl gewollt hoch). Wie immer ausgezeichnet: der Chor unter Tarmo Vaask, mit Kinderchor des Staatstheaters, der wunderbarerweise auch aus den Höhen des Opernhauses in den Raum klingt. Wie immer gut auch die „kleinen“ Solisten: die Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen, unter denen ich nur Sergej Nikolaev und Andromahi Raptis erwähnen will. Sie alle spielen und singen mit Emphase, sie wissen, was sie tun und warum sie es tun: egal, in welcher „Geschichte“. Sie und die Statisten „machen“ den Abend, gestalten ein meist spannendes Theaterstück und gehen mit den Defiziten von David Hermanns Kopftheater wie mit seinen spielerischen Anweisungen souverän um. Kein perfekter, aber ein denn doch insgesamt großer Abend für Parsifal: dank Gurnemanz und Kundry, Parsifal und Amfortas.