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Doppelbilder und -Frauen

Bayreuther FestspieleDoppelbilder und -Frauen

Der neue Bayreuther „Parsifal“

Die Hauptsache sind eh die Sänger.

Wenn Elīna Garanča im zweiten Akt auf der Bühne steht, wird die Frage, ob „die“ Brille „es gebracht“ hätte, völlig unwichtig. Oder anders, frei nach Wieland Wagner: Was brauche ich eine zweite Brille auf der Nase, wenn ich die Garanča auf der Bühne sehe?

Nein, diesmal gab es keinen kurz vor der Eröffnung der Festspiele entfachten „Skandal“ – es sei denn, man betrachtete den Umstand als „Skandal“, dass in Zeiten, da selbst die Wiener Staatsoper nicht immer ausverkauft ist, noch am Eröffnungstag Karten für die einst heißbegehrten Sitzplätze zu haben waren. Und abgesehen von einem brüllenden Ochsen, der sich, natürlich noch im herrlichen Ausklang des 1. Akts, im Radio live verewigt wissen wollte, auch abgesehen von den notorischen Buhrufern, die, natürlich, man kennt‘s ja inzwischen aus Bayreuth nicht anders, das Regieteam niederbrüllen wollten, bevor die Mehrheit des Publikums dagegen Einspruch erhob – abgesehen von den Bayreuther Normalitäten blieb das Wesentliche erhalten: die Kunst der Sänger und der Musiker, der Zauber, den manch Sänger am Abend zu entfalten weiß, die Dignität des „Parsifal“-Orchesters, dessen Sound anderswo so kaum zu machen ist (auch wenn es gelegentlich andere Aufführungen gibt, die dem Bayreuther Klangerlebnis in Sachen Mystik in nichts nachstehen).

Parsifal 2023 ©EnricoNawrath_presse Bayreuther Festspiele
Parsifal 2023 ©EnricoNawrath_presse Bayreuther Festspiele

Also Elīna Garanča! Als Kundry trägt sie bekanntlich den zweiten Akt, nachdem sie im 1. schon einiges zu tun und im dritten durch ihre pure Präsenz zu wirken hat. Die Garanča macht das einfach phänomenal. Sie singt und spielt eine Kundry wie aus jenem Bilderbuch, das sich der Schöpfer der Figur einst vorstellte. Sie bezaubert den Tor und uns nicht allein durch größte weibliche Attraktivität, sondern in einer idealen Kombination aus Spiel und Stimme. Der Ambitus dieser  Sänger/Schauspielerin reicht von den zärtlichen Tönen der Muttererzählung zum hochdramatischen Furor, von der Verzweiflung der Erinnerung bis zum wimmernden Dahindämmern. Wer immer die Inszenierung als „schwach“ empfinden mochte, dürfte spätestens nach der leicht hippiemäßigen Blumenszene bemerkt haben, dass Wagner keine pompösen Bühnenbilder, digitale Einspieler oder sog. spektakuläre Aktionen, sondern Akteure braucht, die so sinnvoll miteinander kommunizieren, dass sich die Frage nach irgendeinem „Regietheater“ von selbst erledigt. Wenn Elīna Garanča mit den Mitteln der Innigkeit wie der Verführung die vielfältigen Seiten dieser latent rätselhaften Frau so singt und spielt, dass Hochdramatik nicht identisch mit Schreien ist, wird Wagner, jenseits von irgendwelchen Meta-Interpretationen und -Kommentaren, zur Wahrheit gebracht. Ihre messerscharfe Artikulation setzt den Textdichter so ins Recht wie den alten Belcantisten, der der Kundry die schönsten Melodiebögen in die Kehle komponierte. Kein Wunder also, dass der Schlussbeifall im Festspielhaus bei Garančas Vortreten orkanartige Stärken annimmt, womit selbst jene Publikumsteile versöhnt werden, die mit dem technischen Zubehör und/oder der Inszenierung nicht zufrieden waren.

So gesehen, gehört der Abend der Musik und denen, die sie machen und körperlich vertreten, auch wenn sich Andreas Schager in der großen Szene des 2. Akts in eher übertriebenen Konvulsionen über die Bühne bewegt. Egal! Denn auch dieser Parsifal ist, nach seinem letzten Bayreuther Parsifal, bis zum oratorischen Finale, ein Ereignis der Kraft und der dramatischen Erfüllung. Dass Georg Zeppenfelds Gurnemanz nicht enttäuscht, war angesichts der bekannten Stärken dieses exzeptionellen Charakterbasses zu erwarten, der, angepasst an die durchaus neuen Tempi, die der Dirigent ihm gab, wieder neue Züge in dieser oft gesungenen Partie entdeckte – was freilich auch durch die Inszenierung bestärkt wurde. Wir sollten Jay Scheib vielleicht weniger loben, weil er für eine Minderheit des Publikums die Augmented-Reality-Brillen erfand. Wir sollten eher das Augenmerk auf die Details seiner Regiearbeit haben, die nur auf den ersten Blick  wie eine simple Nacherzählung mit wenigen neuen Akzenten aussieht. Gewiss: Nach Christoph Schliengensiefs revolutionärer Parsifal-Performance und Stefan Herheims dramaturgisch exzellent durchdachtem Bildertheater hat es jede Inszenierung des Werks, wohl nicht allein in Bayreuth, schwer. Was Gurnemanz betrifft, so hat Scheib in der bekannten Figur eine Facette entdeckt, die zunächst durch eine hinzuerfundene Figur, oder anders: durch eine weitere personale Interpretation der Kundry provoziert wird. Nachdem das Orchester den ersten Durchgang des ersten Motivs hinter sich gebracht hat, beginnt die Annäherung von Kundrys Schatten; Manuela Bauernfeind, die, enorm eindrücklich, im Vorspiel von Herheims „Parsifal“-Inszenierung die Herzeleide spielte, begleitet jetzt Elīna Garanča durch die Akte, um, mehr oder weniger intensiv, der Figur eine zweite Schicht – die des unsichtbaren Inneren – zu verleihen: allerdings nicht in der großen Szene des 2. Akts, was interessante Rückschlüsse auf die Authentizität der Figur während der Verführung und des Fluchs zulässt. Kundry ist eine Figur, die zwischen Anteilnahme, Depression und erotischem Verführungswillen changiert; Kundry II begibt sich zunächst in eine seht innige Umarmung mit Gurnemanz, bevor sie ihn buchstäblich erotisch niederstreckt. Damit wir‘s deutlich sehen, hält der Kameramann drauf, der uns auch, und das ist vor allem für die letzten 20 Reihen des großen Festspielhauses sehr sinnvoll, die Kundry des zweiten Akts in voller, ausdrucksstarker Größe zeigt.

Gurnemanz‘ „Du“, das wir im dritten Akt ihn aussprechen hören, klingt plötzlich anders als gewohnt. Gurnemanz ist überhaupt in dieser Inszenierung nicht der Hardliner, als den wir ihn in den letzten Inszenierungen, manchmal auch in Bayreuth, meist sahen. Scheib zeigt ihn als Persönlichkeit mit einem Inneren, das seine jahrelange Bindung an die Frau verständlich macht, die im dritten Akt nicht unmäßig gealtert ist, sondern ihre Wandlung durch zwei einfache Details vollzogen hat: Trug sie im 1. Akt, als Ausdruck ihrer Schizophrenie, noch schwarze und weiße Haare, so im zweiten nur schwarze, dann im dritten weiße: Ausdruck einer Reinigung durch unfreiwillig-freiwillige Entsagung. Und sie zeigt auf dem Rücken den Ausschnitt eines T-Shirts, das die sinnreichen Aufforderung „Forget me“ trägt, während Parsifal seit dem 2. Aufzug ein „Remember me“-Shirt an sich hat. Das ist vielleicht nicht allzu subtil, aber eine schöne sinnvolle Einzelheit, die ganze Programmheft-Essays überflüssig macht. Man muss nur hinschauen und lesen können – und sich an Wagners Text erinnern.

Das sind so Details einer Regie, die es mit dem unauslotbaren Stoff aufnimmt. Scheib stellt uns ein realistisches Drama vor, das, mit Ausnahme des dritten Akts, in dem eine riesige Maschine auf der Bühne steht, durch Symbole realisiert wird. Er erinnert uns an die Gegenwart, indem das (Bühnen-)Bild beständig mit ihnen agiert, die zugleich die verderbte Gegenwart evozieren: so, wie Wagner schon sein für seine Zeit vielleicht gültiges Symbol-Drama in Bezug auf seine Gesellschaft angelegt hat. Haben die Buhrufer gegen die „Schwarzen“ wieder einmal das Programmheft nicht gelesen? Oder wollten sie nicht verstehen, dass die Parallelisierung des „dinc“ (O-Ton Wolfram von Eschenbach, um 1200) namens „Gral“ mit den heißumkämpften Wertstoffen der Gegenwart, den Schwer- und Leichtmetallen, schon deshalb Sinn macht, weil der Gral niemals einer einzigen Deutung unterliegt? Zugegeben: der Blick in eine Landschaft mit Gralssee, die deutlich an ausgehobene Gruben, also mit Menschenleben erkaufte, zerstörte Landschaften erinnert, von denen wir mit unseren I-Phones, Handys und Autos als erste profitieren, wirkt ernüchternd. Aber nirgendwo steht bei Wagner geschrieben, dass das Gralsland des dritten Akts ein heiles ist; die Musik des Karfreitagszaubers beschwört eher eine melancholische Hoffnung als die Wirklichkeit. Die Bilder, die Scheib zusammen mit der Bühnenbildnerin Mimi Lien fand, treffen, leider, ins Herz der Gegenwart, ohne den Anspruch zu haben, das Wagnertheater neu zu erfinden (was selbst in Bayreuth eher die Ausnahme als die Regel ist). Dass die Verwandlungen im 1. und 3. Akt die Bühne kaum verwandeln (und auch in der Brille keinen Widerhall finden), ist schade, hat aber seinen Sinn dort, wo Verwandlung zum faulen Zauber mutiert. Die Gefahr des äußerlichen Spektakels war übrigens, trotz gewaltiger Zwischenmusiken, schon 1882 gegeben: im Bayreuth des Jahres 2023 hebt sich ein Kreis aus Neonleuchten, halb Artusrundentisch, halb Heiligenschein, um uns von Fern an Lithiumkarbonat-Landschaften zu erinnern, wie man sie aus der Luft sehen kann.

Wichtig bleiben, siehe oben, eh die Sänger. Derek Welton singt mit seinem Kavalierbariton einen wunderbar deutlichen, leidenden, in jedem Sinne verständlichen Amfortas, Jordan Shanahan ist ein guter, dunkel abgetönter, in den dramatischen Spitzen scharfer Klingsor, der es vokal mit manchem seiner Bayreuther Vorgänger aufnehmen kann. Vorzüglich: der Titurel Tobias Kehrers. Auch die Ensembles, allen voran der Chor, dann die Blumen, nicht weniger die Kleinensembles der Knappen und Ritter, sind von größter homogener Stimmschönheit und ausgewogener Kraftentfaltung. Dass der Nürnberger Opernfreund Julia Grüter als Soloblume hören kann, ist eine der Freuden des Abends, die nicht allein durch die geographische Nähe der Festspielstadt zur Meistersinger-Stadt gegeben wird. Nein, man muss es nicht bedauern, dass lange Passagen ruhig inszeniert wurden. Die absolute Konzentration auf die spielenden Sänger, auf die Konflikte und den Text wurden auch nicht durch die Live-Videos behindert; wer wollte, konnte sich die dauernde Versorgung der Amfortas-Wunde während Gurnemanz‘ Erzählung anschauen oder auch nicht – und sich ein paar Minuten später daran erinnern, dass Michaela Bauernfeinds Finger schon, bevor sie auf die Wunde des getöteten Schwans pressten, sich um Amfortas‘ unstillbaren Körperausfluss und den Balsam kümmerten. Wer mochte, konnte sich im dritten Akt, während der letzten Gralszeremonie, das Händespiel von Kundry I und Kundry II ansehen – oder auf die Bühne schauen. Nichts also von der videomanischen Penetranz, die in Castorfs‘ „Ring“-Verwurstung über die Zuschauer kam – und im zweiten Akt Elīna Garančas Gesicht genau zu sehen, ist schon ein Ereignis.

So wie, nehmt alles nur in allem, auch dieser Abend: wenn man einmal davon absieht, dass die Inszenierung nicht „sensationell“, sondern tatsächlich durchdacht und die AR-Brille mit ihren meist ornamentalen Angeboten, dem Vernehmen nach, wohl eher entbehrlich, bisweilen ausgesprochen störend war. So gesehen, fiel das Festspielhaus, warum auch immer, am Ende des 2. Akts nur in der relativ exklusiven Augmentation in Trümmer. Der relevante Rest war ein Beifallssturm für das, was einzig wichtig war.

Und der Gral? Das Ding, das bläulich schimmernde Mehreck, wird schließlich vom neuen „König“ zertrümmert, man braucht ihn nicht mehr. Es bleibt das, was sich Wagner einst von einer freien Gesellschaft erträumte: Zarte Harmonie in Freundlichkeit – eine Utopie, ganz, wie sie Wagners Musik verhieß und immer noch verheißt. Die Frauen hatten schon zu Beginn der Szene in die Männergesellschaft Einzug gehalten.  dass Kundry nicht seelenlos zu Boden sinkt, sondern in den aufgelösten Gralsbund der Befreiten aufgenommen wird, versteht sich von selbst. Sie wurde ja schon im 2. Akt selbstbewusst initiativ, als sie, sich selbst vor Parsifal stellend, ihn vor dem Speer schützte, um dann zusammen mit dem jungen Mann, wenn auch nicht sonderlich virtuos, Klingsor in einer konzertierten Aktion die Waffe zu entwenden. Das ist gegen Wagner, verfälscht ihn – und macht ihn, gegen ihn, doch für die Gegenwart akzeptabel. Das Orchester aber, die Basis des Ganzen, legitimert diese Sicht. Der Hügel-Debütanten Pablo Heras-Casadom schifft die Instrumentalisten souverän durch die Klippen der Bayreuther Akustik, die Kontraste sind an diesem Abend auch im Graben stark: hier der unendlich zarte Beginn, immer wieder sehr weiche Akzente, deliziöseste pianissimi nicht allein in den samtenen Streichern, dort zügige Zeitmaße und dramatische Akzente, die das „Weihfestspiel“ agitatorisch weitertreiben, um es jenem Zustand anzunähern, der unter den schnellen Tempi Hermann Levis, also bei und mit Wagner 1882 üblich war.

Der Beifall auch für den Dirigenten war gewaltig, der Erfolg denn doch, trotz Brillen und Brüllen, relativ ungeteilt.

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