Schon Loriot wusste: „Weihnachten ist das Fest des Kindes“. Jedenfalls ist es mittlerweile dazu geworden. In früherer Zeit stellte der Heilige Abend mit den anschließenden Feiertagen indes den Auftakt zu den Raunächten dar, die als „Zeit des Übergangs“ galten. Die Bewohner unserer Region meinten darin die Überlagerung verschiedener Zeitebenen erkennen zu können, indem sich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffneten. Insofern war es einerseits möglich, einen Blick auf das zu werfen, was das neue Jahr bringen würde, wozu man beispielsweise das „Horchen“ praktizieren und die Tiere im Stall befragen konnte, die zwölf Nächte lang mit menschlicher Zunge reden konnten. Andererseits aber glaubte man auch daran, dass die Seelen aus dem Jenseits auf Wanderschaft gehen und allerlei Unfug anstellen konnten. Daher rührt auch der Brauch, dass man während der Raunächte tunlichst auf das Aufhängen von Wäsche verzichten solle, in der sich die herumirrenden Geister verfangen könnten und schließlich das gesamte folgende Jahr ihren Schabernack treiben würden. Die Bräuche jener Zeit stellten demnach, wie bereits in der letzten Ausgabe des Kulturbriefes dargestellt werden konnte, einfache Regeln dar, an die sich die Menschen hielten, um sich so eine gewisse Sicherheit einreden zu können. Zu diesem Komplex gehören auch die „Wächterfiguren“, deren Aufgabe darin bestand, recht nachdrücklich auf die Einhaltung des Brauchtums zu achten. Heute sind diese Gestalten vollkommen in Vergessenheit geraten, da man sich im Rahmen der Fokussierung auf das weihnachtliche Kinderfest mehr und mehr von diesen teils schaurigen Vorstellungen verabschiedet hat, doch leben sie in südbayerischen Gefilden in Gestalt der „Perchten“ noch immer weiter. Die bekannteste Perchte in Oberfranken war der „Pelzmärtel“, der Kompagnon des Nikolauses, den man andernorts als Knecht Rupprecht kennt. Auch wenn in der neueren Zeit beide Figuren zu einer verschmolzen und man zwischenzeitlich annahm, dass Nikolaus und Pelzmärtel tatsächlich ein und dieselbe Person waren, fungierten sie einst als Gespann: Der Nikolaus, den der Protestantismus später durch das Christkind ersetzte, war der gute Gabenbringer, die Aufgabe des Pelzmärtels indes war die Bestrafung der Ungezogenen, was auch sein Name verrät: „Pelzen“ heißt nichts anderes als „Prügeln“. Das tat der Hühne allerdings nicht aus reinem Spaß an der Freude, sondern weil es sein Auftrag war: Die Bestrafung sollte jene treffen, die sich nicht an die Bräuche des Volksglaubens hielten und die somit Gefahr liefen, großes Unheil heraufzubeschwören, was aus dem Pelzmärtel eher eine Art Sittenpolizei machte. Auch wenn die Auftritte von Perchten, die zwischenzeitlich immer häufiger auf den Weihnachtsmärkten ihr Unwesen treiben, sicher die einen oder anderen Besucher erschrecken mögen, stellen sie demnach doch einen wichtigen, leider vergessenen Bestandteil des regionalen weihnachtlichen Brauchtums dar. Dazu zählten natürlich auch andere, heute leider nur noch sporadisch verbreitete Riten: So musste am Heiligen Abend ein „Zwölferlei“ oder ein „Neunerlei“ aufgetischt werden, also eine aus zwölf bzw. neun Gerichten bestehende Speisenfolge. Die zugrundeliegende Macht der Zahlen ist durch die Bibel erklärbar: einerseits gab es zwölf Stämme und ebenso viele Apostel, zwölf Monate im Jahr und daher eben auch zwölf Raunächte; andererseits ist die Drei als Symbol der Dreieinigkeit Gottes mit sich selbst malgenommen neun, was die höchste Vollendung und damit auch den besten Schutz vor dem Bösen bieten sollte. Wichtig war auch, dass die Reste des reichhaltigen Mahles nicht einfach weggeworfen wurden, sondern man sie auf dem „Soma-Eck“ (dort, wo die Felder zusammenstießen) in alle vier Himmelsrichtungen streute. Das würde im nächsten Jahr schlechtes Wetter und allzu starken Wind verhindern, wodurch das Getreide besser wachsen konnte. Wer wissen wollte, welche Pflanzen besonders gut gedeihen, der konnte sich am Heilig Abend ein wenig Wasser aus einer nahen Quelle holen und es in verschiedene Gefäße füllen, wovon jedes für eine andere Getreidesorte stand. Hatten sich am nächsten Morgen auf dem Boden Luftblasen gebildet, wusste man, dass eben jene Sorte gutes Wachstum erzielen würde. Mittlerweile laden all jene Vorstellungen eher zum Schmunzeln ein, doch stellten sie für unsere Vorfahren ein wichtiges Instrument dar, der Unsicherheit des Alltags mit einer – wenngleich nur suggerierten – Kontrolle begegnen zu können. Gerade in Zeiten einer um sich greifenden Kommerzialisierung der Hochfeste sollte man demnach stets im Hinterkopf behalten, dass die zugrundeliegenden Bräuche noch vor einhundert Jahren ganz andere waren; und dass anstelle eines dickbauchigen und rot-wangigen Santa Claus der Nikolaus, das Christkind und auch der Pelzmärtel unterwegs waren.
Adrian Roßner
