Mozart: Köchelverzeichnis. Neuausgabe 2024
Als müsst’s so sein, wurde ganz kurz vor der öffentlichen Präsentation des neuen Köchel-Verzeichnisses ein neuentdecktes Werk Wolfgang Amadé Mozarts quasi uraufgeführt: sinnigerweise in der Leipziger Oper vor einer Opernaufführung. Im Opus magnum, das nun herauskam, trägt es die Nummer KV 648, womit die Caßation aus dem C zu den kanonischen Werken des Komponisten gezählt werden kann. Andere jüngere „Entdeckungen“, die mit großem Bohei verkündet und eingespielt wurden, haben es dagegen nur in den Anhang geschafft. Unter der Nummer A 64, also unter all jenen Werken, die Mozart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bearbeitet hat, findet sich nun auch das Duett Nun, liebes Weibchen, ziehst mit mir. Komponiert wurde es – und als solches wurde es in den letzten Jahren auch populär – für das Singspiel Der Stein der Weisen oder Die Zauberinsel, ein Bühnenwerk für das Freihaustheater, in dem ein Jahr später auch Die Zauberflöte uraufgeführt werden sollte. Kenner dieses Werks, das seit etwa 25 Jahren wieder bekannt ist, haben den Titel bereits im „alten“ Köchel-Verzeichnis entdecken können, wo es unter der Nummer 592a katalogisiert wurde. Nun also ist es in den Bereich der „nur“ von Mozart traktierten Werke geraten; dafür entschädigt die neue KV-Nummer 714 zur Genüge, denn hier werden gleich zwei Nummern aus dem Stein der Weisen unter jene Werke subsumiert, die, wenn auch von „zweifelhafter Echtheit“, nach den Forschungen und Mutmaßungen der Herausgeber von ihm geschrieben worden sein könnten. Doch selbst jene Stücke, die in den Anhängen A und C des Verzeichnisses erscheinen, die also entweder „nur“ von Mozart bearbeitet wurden (wie das noch nicht lange bekannte Klavierstück A 66) oder in keinem Fall von seinen Händen stammen, sind alle Aufmerksamkeit wert. Denn mit ihm erhaschen wir nicht allein einen intensiven Blick auf das, was Mozart aus den verschiedensten Gründen schrieb und/oder abschrieb, wenn er nicht gerade eigene Werke komponierte. Wir lernen mit dem viele Dutzend Nummern umfassenden C-Verzeichnis jener Werke, die Mozart irgendwann untergeschoben wurden, viele interessante Zeitgenossen kennen, die meist im Windschatten Mozarts segelten.
In diesem Sinn bietet der neue Köchel gegenüber den Informationen, die die 60 Jahre alte 6., damals neubearbeitete Auflage des Köchelverzeichnis bietet, einen Mehrwert, der kaum zu überschätzen ist – nicht einmal in Hinblick auf den Abgleich mit den Forschungsergebnissen, die in der NMA, also der abgeschlossenen Neuen Mozart-Ausgabe, als letzter Stand der Forschung veröffentlicht wurden (obwohl man, soweit es die letzterschienenen Bände der Notenausgaben betrifft, die allerneuesten Funde auswerten konnte). Die „Neuausgabe“ des Köchel, also das Köchelverzeichnis 2024, wie man es nennen sollte, zieht Schlüsse, die man nur deshalb zu ziehen vermochte, weil man für den neuen Katalog die aktuelle Forschungsliteratur und die originalen Materialien studiert hat. Der unmittelbare Vergleich mit der letzten Bearbeitung des Köchel-Verzeichnisses bringt Klarheit in manch scheinbar diffusen Befund, korrigiert freilich auch gelegentlich stillschweigend frühere Bemühungen um Zuordnungen, die sich als spekulativ erwiesen. Letzteres war nur möglich, weil inzwischen die Wasserzeichen-, Kopisten- und Skizzen- Forschung für haltbare Korrekturen, Neuzuordnungen und sichere Daten sorgte, an die in den 60er Jahren noch nicht zu denken war. Der neue Köchel profitiert nun in einer Weise an den Eruditionen zumal der mit Papiersorten, Abschreibern und Entwürfen befassten Wissenschaftler, die Wesentliches zur Aufhellung der Geschichte(n) des Wiener (und des Prager, Berliner, Dresdner…) Musikwesens zur Mozart-Zeit beitrugen.
Doch der Reihe nach: Was nach dem Katalog von 1964 unmittelbar neu bzw. neu eingeordnet wurde, findet der Leser, der sich die Werke und Werkfragmente nach dem Requiem KV 626 anschaut, nun eher unter den Nummern 626b bis 721, wobei nicht weniger als 42 der alten 626b-Nummern zu den Skizzenbuch-Einträgen, den Anhang mit den untergeschobenen Werken oder in die „normalen“ KV-Werke verschoben wurden; man dankt den Herausgebern schon diese Übersichtlichkeit, die sich auch in einer Vereinfachung der Durchnummerierung und dem wichtigen Hilfsmittel einer Konkordanz niederschlug. Wer es genau wissen will, bekommt mit den sparsamen, aber genau die richtigen Bücher/Aufsätze/Artikel nennenden Literaturhinweise die beste Weiterleitung: bis zum Erscheinungsjahr 2024.
Rückten einige einst als zumindest halbauthentisch betrachtete Mozartiana jetzt unbarmherzig in einen der Anhänge, so gelangten nun umgekehrt einige wenige Stück in den vorderen Teil. Die Neuausgabe des Köchel bietet damit eine Fülle von Hinweisen, Ergänzungen und Vertiefungen, die der Leser sich ansonsten mehr oder weniger zeitaufwendig aus der Sekundärliteratur herausziehen muss. Noch das Verzeichnis Anhang G – Kadenzen, Eingänge und Auszierungen – bietet Schönstes, bevor die H-Abteilung – Studien, Unterrichtsmaterial und sonstige musikalische Aufzeichnungen – zuletzt die letzten unaufgeräumten Restbestände der 6. Auflage des Köchel in eine vernünftige Form und ein praktisches System bringt. Nicht allein, dass man mit Hilfe zumal dieser beiden Großteile nun jenen Werkchen, die man bislang in seinem persönlichen Speicher mit oder ohne KV-Nummern (KV deest wurde in den letzten Jahren zu einer gängigen Kategorie) eingelagert hat, gültige Ziffern zuordnen, damit wesentlich besser in Mozarts Gesamtschaffen einordnen kann. Die Neuausgabe 2024, die in ihrer Struktur schlicht vorbildlich ist, macht nicht zuletzt von Neuem Lust – falls sie je geschlummert haben sollte –, sich in die „kleinen“ und die „großen“ Werke W. A. Mozarts hineinzubegeben, die nun, im Zeichen historischer Gerechtigkeit, in bislang unerreichbar kompakter Darstellung gleichwertig nebeneinander zu stehen scheinen, weil die Werke eines Genies eben nur im Zusammenhang aller wie auch immer überlieferten Opera begriffen werden sollten. Was soll ein Werkverzeichnis? Es soll in Kürze über den Werkbestand, über sichere Überlieferungen und gleichzeitig über nichtauthentische Traditionen aufklären. In diesem Sinn ist die Neuausgabe 2024, durchaus im Sinne Mozarts, ein Werk der Aufklärung.
Ein großer Dank also an Neal Zaslaw, der im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum die wunderbare Monsterarbeit auf sich nahm, den Köchel für den Mozart-Freund, der an wirklich verlässlichen Grundinformationen über Mozarts inkommensurables Gesamtwerk interessiert ist, gleichsam neu zu erfinden.
Frank Piontek
Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Wolfgang Amadé Mozart. Neuausgabe 2024. Bearbeitet von Neal Zaslaw. 1263 Seiten. Gebunden, im Schuber. Breitkopf & Härtel 2024. 459 Euro