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Stille

Meistersingerhalle, 18.2. 2022

Wie dirigiert man Stille?

Stille gibt es nicht – muss man es bedauern? Aber Stille, sagt Joanna Mallwitz, die GMD der Nürnberger Staatsphilharmonie, „Stille ist für uns existentiell. In den letzten zwei Jahren haben wir die Stille ganz neu erfahren. Deshalb ist 4‘ 33‘‘ eine ‚Schweigeminute‘“, ein Gedenken für all das, was in den letzten Jahren nicht erklingen konnte. Aber Stille gibt es nicht. Joanna Mallwitz zitiert John Cage, der die Beobachtung machte, dass man selbst und gerade in einem akustisch völlig abgeschirmten Raum sein eigenes Blut durch die Adern schießen hört. Stille gibt’s schon deshalb nicht, weil, um damit Schluss mit den Zitaten aus der Konzerteinführung des 4. Philharmonischen Konzerts, weil sie, die Zuhörer, „gewissermaßen alle Mitspieler dieses Stücks sind.“

Und wie klingt nun Cages revolutionäres, freilich nicht voraussetzungsloses Werk (es ist ein Opus, denn wer es aufführen will, muss die Rechte an ihm, d.h.: an einer der verschiedenen Fassungen erwerben) – wie klingt nun also 4‘ 33‘‘ unter Joanna Mallwitz und mit der Nürnberger Staatsphilharmonie? Ereignisreich. Die Aufführung beweist einen Satz, den ich vor einigen Jahren in einer Konzertkritik las: dass es unmöglich sei, die Werke Anton von Weberns in einem Konzertsaal adäquat aufzuführen – in der Meistersingerhalle hört man zunächst mehr oder weniger definierbare Geräusche (Türenschlagen; Gespräche vor der Tür), während aus dem Zuschauersaal, soweit dies möglich ist, nichts tönt; es reicht, dass die Lauschenden atmen, sodass man das Schlucken unter der Maske der Sitznachbarin deutlich vernimmt. Zuletzt, in der vierten Minute, kommen einige wenige zaghafte Huster aus den hinteren Reihen ins Spektrum, nachdem sich die Türen und die Vordentürenstehenden entschlossen haben, keine Töne mehr zu produzieren. Joanna Mallwitz, die „Proportional Version“ (von 1952/53) als Umblätter-Partitur und einen Miniaturbildschirm mit Countdownzählung vor sich, senkt zum dritten Mal die Arme – fast übergangslos geht es zu György Ligeti über; der Ansatz von Atmosphères ist, so ausgeführt, schlicht und einfach: großartig. Denn die „auskomponierte Stille im Universum“, wie Joanna Mallwitz Ligetis Klangwerk nennt, entwickelt sich mit einem plötzlichen Clusterakkord unmittelbar aus der Stille heraus, als könnte es nicht anders sein. Die Frage, was Musik ist, die mit einem alles erklärenden Satz widerspruchsfrei beantwortet werden kann, hat mit Ligetis Atmosphères eine besonders aparte Erläuterung gefunden: Musik ist die Organisation von Klang. Dies gilt selbst für Cages Stück, das eben nicht still ist, sondern die Voraussetzungen dafür schafft, Stille und ihre permanente Brechung als stets neue Musik zu ermöglichen. Ligeti entwarf mit seinem Orchesterstück eine Welt, die, so Joanna Mallwitz, „klingende Stille“ ist. Die Staatsphilharmonie spielt es mit all seinen Schönheiten, die den (scheinbaren) Widerspruch von Konsonanz und Dissonanz im puren Klang aufheben: von den tiefsten Blechblasregistern zu den höchsten, fast unhörbaren, im Schweigen mündenden Streicherflageoletts. Ligeti kam es dabei weniger auf die Demonstration der Brillanz seiner Orchesterbehandlung im Rahmen eine konsequent amelodisch changierenden Struktur an. Er sprach vom affektiven Gehalt des Werks – die Staatsphilharmonie spielt es so delikat, dass man nach knapp 10 Minuten bedauert, dass es schon bald im Nichts verdämmert.

Stille, so heißt das Konzert, aber was hat das Motto mit Gustav Mahlers 5. Symphonie, also einer Symphonie zu tun, die bekanntlich über weite Strecken eine ungeheure Dynamik entwickelt und im Vielklang einer höchst entwickelten Kontrapunktik den Hörer mit parallel laufenden Stimmen geradezu überwältigt? Vielleicht war es das Adagietto, ein Liebeslied für Streicher und Soloharfe, das zwar nicht lautlos, aber gegenüber den anderen vier Sätzen geradezu balsamisch anmutet. „Die 5. ist schwer, sehr schwer“, schrieb der Komponist an den Dirigenten Willem Mengelberg, aber wenn wir am Abend die Nürnberger Staatsphilharmonie am Werk hören, begreifen wir, dass diese Schwere – ein Produkt der polyphonsten Vokalverflechtungen, der gelegentlichen Klangmassierung und der überraschenden Stimmenwechsel – glänzend gemacht werden kann, wenn jemand am Pult steht, der sich die Kontrolle über alle Instrumentalisten bewahrt. Joanna Mallwitz „kann“ das alles: den schneidigen Beginn des Trauermarschs, den hymnischen Choral, den Tanz (den höllischen und den lyrischen), den Zusammenbruch und das Volksfest des Finales. Plötzlich begreift man, was Mahler meinte, als er verzweifelt darauf hinwies, dass man die Musik dieser Symphonie nicht begreifen würde. Die Interpretation bringt es an den Tag: Mahler erwies sich als kritischer Schüler Bruckners, als er mit dem Prinzip Per aspera ad astra schlussendlich eine Vereinigung von weltlichem Getümmel und göttlichem Überbau auskomponierte, wobei der Choral nicht am Schluss des Finales steht, aber während des Allegro giocoso sich ins Gewühl wirft: nicht als Krönung, aber als zeitweilige Begleitung. Man hört’s indes „nur“ deshalb, weil Joanna Mallwitz es versteht, die leidenschaftlichen Charaktere der Mahlerschen Musik, nicht zuletzt mit ihrer Gestik und Körperspannung, deutlich herauszuarbeiten. Dem Vorwurf, dass es bei Mahler ein Zuviel oder Zulang gäbe, der noch nicht verstummt ist, antwortet sie mit einer glasklar strukturellen Deutung einer Musik, in der das Pathos und die Burleske gleichermaßen zuhause sind. Ligeti schätzte Mahler; in einem Aufsatz wies er einmal auf die Raffinesse der Instrumentation zumal der 5. Symphonie hin; in Nürnberg spielt Roland Bosnyák das Solohorn im zweiten Satz: eine Meisterleistung, so wie die des gesamten Orchesters. Mahler schrieb einmal, dass es in der Musik auf die Distinktion ankäme, so dass selbst in schnellen Passagen noch jede Note hörbar sein müsse. In Nürnberg, unter Joanna Mallwitz, klingt die 5. selbst dort noch klar, wo die Polyphonie an den Rand des unmittelbar Verständlichen zu kommen scheint. Am Abend waten weder die Musiker noch die Zuhörer im Klangbrei. Begann das Konzert mit einer organisierten Stille, die nicht still war und nicht still sein sollte, so endete er mit dem fantastischen Schlusssatz einer Symphonie, die im überbordenden, aber gleichfalls organisierten Jubel endet – und im Jubel des Publikums, das die Musiker und die Dirigentin begeistert feierte.

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