Nach gut einem halben Jahr des Darbens und Wartens ist die Besteigungsanlage „Schüssel“ auf dem Großen Waldstein endlich wieder begehbar: Nachdem Sturm „Ignatz“ im letzten Jahr Teile des historischen Geländers stark beschädigt hatte, was einen Aufstieg zu riskant werden ließ, haben die Ehrenamtlichen des Fichtelgebirgsvereins die Schadstellen in diesem Frühjahr ausgebessert, Rekonstruktionen der eisernen Halterungen angebracht und die typischen Handläufe aus behauenen Stämmen installiert.
Die aufwendige Aktion zeigte auch, welch immenser Aufwand vor über 160 Jahren betrieben wurde, um den Aussichtspunkt überhaupt für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich der Waldstein zum „Touristen-Hotspot“ entwickelt, der die Vertreter des modernen, biedermeierlichen Bürgertums in Scharen anzog. Bedingt durch die wirtschaftliche Blüte unter der preußischen und später der bayerischen Regierung war aus Nordoberfranken in jener Zeit eine der „fabrikreichsten Gegenden des Königreichs“ geworden, wobei damit keine „Fabriken“ im heutigen Sinne gemeint sind, sondern der damals im Textilwesen eingesetzte Verlag. Eine Art dezentrale Manufaktur, in der Handweber für einen sogenannten Verleger arbeiteten, der ihnen die Rohstoffe für die Produktion zur Verfügung stellte und ihre fertigen Waren auf Messen verkaufte. Durch diese Netzwerke war eine stark exportorientierte Wirtschaftsstruktur entstanden, die unter anderem von Hardenberg in ihrer Bedeutung weiter gestärkt worden war. Die Verleger oder „Fabrikanten“ wurden so zur wirtschaftlichen Elite, die einen doch elitär anmutenden Habitus entwickelte: In den großen Städten wie Bayreuth und Hof fanden sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu „Bürgergesellschaften“ zusammen, von denen eine mit der Hofer „Gartengesellschaft“ bis heute existiert. Gleichsam distanzierten sie sich vom „Fränkischen“ und brachten Lehnwörter in die Sprache ein, die sie auf ihren Messereisen aufgeschnappt hatten. Denn was heute das Englische ist, war damals das Französische! Während demnach die einfachere Bevölkerung, oder „der gemeine Haufen“, wie es die Münchberger Bürger 1806 ausdrückten, weiterhin den so sympathischen Dialekt nutzten und „affm Gehschdeich“ spazierten, wandelten die Bürger auf dem „Trottoir“ oder entspannten zuhause auf dem „Kanapee“.
Eine der größten Veränderungen fand in der Nutzung der Zeit durch die Bürger statt: Sie konnten es sich leisten, auch einmal nichts zu tun und suchten daher nach adäquaten Beschäftigungen unter anderem in der Forschung oder auch im simplen Genuss der Natur. Auf der Jagd nach dem göttlichen Chaos, dem Kern der „Schöpfung“, die sie im Rahmen der aufkeimenden Romantik wieder mehr wertzuschätzen wussten, strömten sie in den Wälder des Fichtelgebirges, um die Wildheit zu genießen. Und nachdem die Natur dem Idealbild eines romantischen Wanderers nicht unbedingt zu einhundert Prozent entsprach, halfen sie teilweise sogar nach, indem sie Parkanlagen und Wandelgänge etablierten. Der Felsengarten Luisenburg ist dieser Bewegung ebenso entsprungen, wie der „schönste Bürgerpark Deutschlands“, der Theresienstein bei Hof.
In den 1830er Jahren öffnete sich das Bürgertum schließlich auch für das aufstrebende Nationalbewusstsein: Geeint durch die Feindschaft Napoleons hatten sich die deutschen Länder einige Jahrzehnte zuvor erstmals als eine „Nation“ wahrgenommen und Gefallen daran gefunden, sich vom politischen Flickerlteppich zu verabschieden. Auf der Suche nach dem einenden Element fokussierte man selbstverständlich auch die „deutsche Geschichte“, die – romantisch verklärt – zum Bestseller in literarischen Werken, Theaterstücken und Gemälden wurde. Insbesondere das Mittelalter erfreute sich immenser Beliebtheit und genau damit konnte das Fichtelgebirge mit seinen stolz auf den Berggipfeln thronenden Burgen par excellence glänzen. Ab den 1840er Jahren begann daher der bürgerlich initiierte Tourismus nicht allein die Natur per se neu entdecken zu wollen, sondern sich darüberhinaus auch mit den „Ruinen, Alterthümern und noch stehenden Schlössern“ zu beschäftigen, wie es Johann Theodor Benjamin Helfrecht, Lehrer des berühmten Jean Paul und Vorbild für das Schulmeisterlein Wutz, Ende des 18. Jahrhunderts ausgedrückt hatte.
Am Waldstein schuf man für die „Lustwandler“ eine gigantische Infrastruktur mit dem „Hospiz“ im Zentrum, aus dem sich das bis heute existente Waldsteinhaus entwickelte, und unzähligen Pavillons und Sitzgelegenheit rund um die Ruine des „Roten Schlosses“ verteilt. Die Touristen kamen zuhauf und als 1851 der bayerische Regent Maximilian II. seinen Besuch im Fichtelgebirge angekündigt hatte, war der Plan geboren worden, für ihn die „Schüssel“ neu zu ertüchtigen. Bis dato war der Felsturm zwar durch waghalsige Treppenkonstruktionen gut begehbar gewesen, doch befand sich auf seiner Spitze lediglich eine natürliche Felsmulde, die namensgebende „Schüssel“ eben. Für Maximilian schlug man deren Ränder ab, füllte die Vertiefung auf und platzierte auf ihr einen ansehnlichen Pavillon, den man im Anflug patriotischer Königstreue in den blau-weißen Landesfarben der Wittelsbachischen Regierung anpinselte. Am Ende kam Maximilian aufgrund einer unschönen Terminüberschneidung doch nicht nach Nordoberfranken, doch kann, wer den Aussichtspunkt auf über 880 Metern heute betritt, noch immer erkennen, für wen er eigentlich gedacht gewesen ist: Immerhin bilden die schmiedeeisernen Zierelemente rund um das Dach die französische Lilie als Zeichen der Monarchie.
Nutzen Sie, werte Leserinnen und Leser, also die neuerlich zugänglich gemachte Schüssel, um nicht allein ein einmaliges Panorama über das Fichtelgebirge genießen zu können, sondern auch, um auf den Spuren der Geschichte zu wandeln!