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Bayreuth
Freitag, 19. April 24

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Punktgenau und textgetreu: Die neue Bayreuther Walküre

Bayreuther FestspielePunktgenau und textgetreu: Die neue Bayreuther Walküre

Es geht nicht darum, etwas einmal Gefundenes haargenau so zu wiederholen. Sondern es geht um das, was im Moment entsteht. Das macht lebendiges Theater aus.

Valentin Schwarz

Sie ist schon eine Bombe. Sie empfängt am Ende die meisten, wohlverdienten Bravorufe, und sie ist, über weite Strecken, der musikdramatische Mittelpunkt dieser Walküre.

Die Rede ist von Lise Davidsen. Wäre sie nicht, müsste man, obwohl mit Christa Mayer eine erstklassige Fricka auf der Bühne steht, von einem Untergewicht an starken Frauenstimmen reden – wenn man einmal die Walküren vergisst, die auch in dieser Inszenierung, was kein Schaden, sondern eher ein Gewinn ist, rein szenisch betrachtet komödiantische Leichtgewichte sind. Lise Davidsen aber führt das Terzett der drei Hauptfrauen an: mit ihrer bekannten, tiefsamtigen, voluminösen und weit ausschwingenden, für die kleinsten Nuancen zuständigen Stimme. Wäre das Vokale allein schon die Szene – wir haben es, als sie 2021 in der konzertanten, durch Hermann Nitschs Schüttbilder akzentuierten Aufführung schon die Sieglinde sang, erlebt -, wäre der Sound also schon das Drama, wären wir bei Lise Davidsen schon ganz zuhaus. Dass und wie sie ihre Zuschauer mit Ausdruck und schauspielerischer Kompetenz betört, zeigt sich im Applaus, der bei ihrem Erscheinen vor dem Vorhang die vielzitierte Orkanstärke annimmt. Schon deshalb ist diese Aufführung den Besuch wert.

Sie hat auch sonst ihre Stärken, wenn auch nicht durchgehend auf musikalischer Ebene. Das Orchester wackelt unter Cornelius Meisters Leitung denn doch allzu häufig, bringt Phrasen zusammen, die nicht zusammengehören, produziert gelegentlich (nicht häufig, aber es genügt, um sich die Ohren zu reiben) neue Farben und wirkt stellenweise unkonzentriert. Rein tempomäßig gibt es nichts zu mäkeln; der Abend dauert mit etwa drei Stunden 45 Minuten reiner Spieldauer ungefähr so lang wie der Bayreuther Erstaufführungsabend, hält also die Mitte zwischen den Bayreuther Extremen. Dass aus dem Mund der Brünnhilde Irene Theorins für den Zuhörer, der den Text nicht kennt, fast ausschließlich Vokalisen strömen, ist ein Manko, das auch durch ihren darstellerischen Einsatz nicht ausgeglichen werden kann, und Thomas Koniecznys Wotan ist, wie man so sagt, schlicht gewöhnungsbedürftig. Im Lauf des Abends scheint er sich einzusingen, doch im technischen Sinne schön und klanglich ausgewogen klingt sein Organ bis zum Schluss nicht. Was für ihn spricht, ist sein Durchhaltevermögen und die Gestaltungskraft, die selbst durch die eigentümliche Gutturalität seines Tonerzeugungsapparats hindurchdringt – vom Szenischen ganz abgesehen, das er glänzend gestaltet. Und Fricka, also Christa Mayer, ist ihm bis zum letzten Takt eine Partnerin, die sich manch Wotan, in allen spannungsvollen Widersprüchen, nur wünschen kann. Sie befindet sich durchaus im Mittelpunkt der Inszenierung, da sie nicht allein in ihrer großen Auseinandersetzungsszene mit ihrem Göttergatten auf der Bühne steht. Sie ist ein vollgültiger Teil des Dramas, in dem sie noch im „Feuerzauber“ eine im Sinne Goethes bedeutende Rolle spielt; dass ihre Anwesenheit in diversen Szenen die Musik nicht beschädigt, gehört zu den Stärken des Abends, an dem mit Klaus Florian Vogt und Georg Zeppenfeld zwei wunderbare Sängerdarsteller das Spiel mitbestimmen: Vogt mit einem inzwischen (glücklicherweise) leicht aufgerauhten Stimmklang, mit dem er die dramatische Rolle des Siegmund gestalten kann, Zeppenfeld mit seinem höchst verlässlichen Bass. Dass Davidsen, Vogt und Zeppenfeld durchgehend verständlich sind: auch dies macht diese Walküre, bei allen musikalischen Einschränkungen, zu einem akustischen Genuss – ganz abgesehen davon, dass sie das machen, was man im Theater selbstverständlich machen sollte: spielen. Es läuft in diesem Fall nicht auf ein overacting hinaus, sondern auf eine wohltuende Mischung aus Vitalität und Zurückhaltung, die man nicht mit Statik verwechseln sollte. Langweilig ist diese Walküre keinen Moment.

Was aber wird hier gespielt? Ein Sturm wütete um Hundings Haus, ein Baum fiel hinein, die Wurzeln liegen blank und haben eine Glasscheibe zertrümmert. Hunding inspiziert den Schaden, verlässt schnell die Bühne, um Werkzeug zu holen, Siegmund kommt ins Haus, Hunding kehrt zurück und beginnt, die Bilder zu putzen. Schon in der ersten Szene bemerkt man, dass Valentin Schwarz in der Forterzählung der Familiengeschichte auf Anschlüsse und Verweise im Sinn der Wagnerschen Erinnerungsmotive bedacht ist. Hunding ist ein angeheiratetes Gentilmitglied, der, vermutlich, Sieglinde vor fast neun Monaten ein Kind gemacht hat; er ist dabei, wenn Fricka bei Wotan vorspricht. Bemerkenswert ist bereits die Tatsache, dass der neue Hunding kein Bösewicht, sondern ein zunächst empathischer, freundlich zugewandter Hausbesitzer ist; Zeppenfeld macht das nicht allein gestisch, auch vokal faszinierend – ohne Widerspruch zu Text und Musik (merke: Nur, weil man Hunding tausendmal anders gesehen hat, muss er nicht in jeder Aufführung so und nicht anders sein). Schläft Hunding in seinem Sessel ein, muss der Zuschauer sich nicht wundern, denn mit dem „Wonnemond“ beginnt eine so sachliche wie magische Raumverwandlung, die uns tief in Siegmunds und Sieglindes Kindheit  hinein führt. Herab fährt das nun zum Doppelraum erweiterte Kinderzimmer, in dem die beiden einst eng miteinander verbunden waren. Nun  imaginieren sie sich, indem sie sich selbst verdoppelt als Kinder sehen, in jene Zeit und an jenen Ort zurück, an dem sie glücklich waren – die Szene ist, bei aller relativen Nüchternheit des hölzernen Raums, so innig wie das Verhältnis der beiden Wiedergefundenen, die (die Musik legitimiert auch dies) eher zärtlich als erotisch enthemmt miteinander umgehen. Rührend ist ja schon, dass sie ihre Kinderfotos betrachten, wozu man als Zuschauer nicht einmal wissen muss, dass es sich (ein coup) um die Jugendporträts von Lise Davidsen und Klaus Florian Vogt handelt. Die Inszenierung kommt quasi durch Zurückhaltung zu ihrem ersten Höhepunkt, bevor Hunding im Schlussakkord in die Umarmung hineingrätscht. Der Akkord ist übrigens, bei allem „wütendem“ Jubel der vorhergehenden Takte, dissonant, ist quasi ein Interruptus… (merke: der Regisseur scheint musikalisch zu sein und kann hör- und sichtbar Partituren lesen). Im zweiten Akt werden sie das Haus wiedersehen, in das sie sich in Sehnsucht nach dem realen Spielort ihres Raums hineinflüchten, wo Sieglinde ihr Kind zur Welt bringen will.

Das Konzept dieser Ring-Inszenierung besteht, soviel ist nach dem ersten Akt klar, nicht nur auf dem Papier aus der Deutung des Ring des Nibelungen als ein Familiendrama, in dem die Kinder/Nachfolger/Erben/Dynastischen Stammhalter eine zentrale Rolle spielen. Wo sie es tun, sägt der Übervater an seinem eigenen Ast. Der aber ist, als Vertrags- und Ehebrecher, keine tragische Gestalt, sondern eine sinistre Type, der seinen eigenen Doppelgänger – der andere ist sein Bruder Alberich – aus eigenem Willen heranzüchtet. Moralisch ist er schon dann auf dem Tiefpunkt angelangt, wenn er der auf den Stufen liegenden, schlafenden Sieglinde den Schlüpfer herunterzieht und sich an der Scheide vergnügen will, aus der der Sohn, der vermutlich von Hunding gezeugt wurde, bald herauskommen wird. Der ist schon auf der Welt, wenn Sieglinde das „hehrste Wunder“ besingt, mit dem sie in diesem Fall nicht Brünnhilde, sondern ihr Kind meint. Es ist dies wiederum kein Widerspruch zu Text und Musik, auch wenn Sieglinde ihre nächste Zeile ausdrücklich an ihre Retterin adressiert. Verwirrend ist nur der Umstand, dass der Kleine laut Textbuch der Spross Siegmunds und Sieglindes sein soll. Nur ist Sieglinde, als Vater Wotan Wälses, eben auch eine Wälsungenfrau… und ein Erbe ist ein Erbe ist ein Erbe, was daran erinnert, dass Siegfried, im Licht des BGB betrachtet, eh alles erbt, was Hunding hinterlassen hat, auch die Hälfte der Waffe, mit der sein leiblicher Vater getötet wurde (bequem nachzulesen in Peter Küfners erhellendem Buch Vier Ehedramen und zehn Todesfälle, in dem „Recht und Unrecht“ im Ring nach allen Regeln der juristischen Kunst erläutert werden). Die Waffe ist natürlich kein Schwert – wie sollte dies auch in einem modernen Ambiente zum Einsatz kommen, sondern, natürlich, eine Pistole; gibt es bei Valentin Schwarz auch keine Übergagisierung, so wäre weniger hier mehr: irgendwann wirkt das Gefuchtel mit dem Ding an sich so wie alle Drohungen, die nach längerer Zeit ins Leere fallen, auch wenn zwischendurch die Kanone losgeht: wenn Wotan Siegmund erschießt (was auf das Selbe hinausläuft wie seine Zerstörung von Siegmunds Waffe) und einem seiner Securitys den Auftrag gibt, Hunding zu ermorden (was wiederum aufs Selbe hinausläuft wie sein fatales „Geh!“).

Übrigens ist die Zeugung und Geburt eines Nachkommen Hundings kein Widerspruch zu den Informationen, die Wagner uns im Text der Walküre gegeben hat: Können sich die Geschwister auch „bräutlich umfangen“, so wird doch nicht ausdrücklich gesagt, dass das entbundene Kind von Siegmund und Sieglinde stammt. Wird später Mime, der bei der Zeugung nicht dabei war, behaupten, dass Siegfried das Ergebnis des Inzests sei, könnte er sich so irren wie Wotan, wenn er im ersten Siegfried-Akt Allmachtsphantasien entwickelt und die Wahrheit über seine prekäre Existenz verschweigt. Wie gesagt: Theaterfiguren sprechen nicht immer die Wahrheit. Um dies zu begreifen, muss man nicht einmal Billy Wilders Wittness for the prosecution kennen, in dem dem Zuschauer fast bis zuletzt durch die bloße Behauptung einzelner Ereignisse ein Schleier vor die Augen gehalten wird. Einen Theatertext genau lesen, heißt ja auch, ihn so zu lesen, als kennte man keine anderen Deutungen; was die Musik bei Wagner sagt, spricht, bei Sieglindes Emphase angesichts des „hehrsten Wunders“, zunächst einmal vom Glück, überhaupt ein Kind auf die Welt zu bringen. Nebenbei: wenige Stunden zuvor befand sie sich noch in einem Zustand äußerster Verwirrung, der noch im 3. Akt nicht gänzlich verloren ist. Dass sie die Geburt ihres Kindes nicht überlebt, auch dies zeigt Schwarz – durch ein Symbol, das gleichzeitig sehr konkret ist: die Decke, die wohl schon im Rheingold ihre war, falls das Kind, das wir dort sahen, eben die kleine Sieglinde war. Wie nennt man das, mit Thomas Mann? „Beziehungszauber“. Dass Sieglinde laut Wagner erst nach dem Rheingold gezeugt wird, mag ein genealogisches Problem sein. Hier scheinte es Schwarz darauf anzulegen, zeitliche Kontiunuitäten zu brechen. Man muss das nicht gut finden, aber wirklich wichtig ist es – sit venia verbo – nicht.

Warum? Weil man noch viel sagen über die en detail genaue Inszenierung sagen könnte: über den in Hundings Haus befindlichen Kubus mit der Lichtpyramide, halb Zauberwürfel, halb Symbol, das im Anbau von „Walhall“ hoch errichtet wiederkehrt, und in dem sich die Pistole verbirgt, die Siegmund findet, man könnte es bewundern, wie Christa Mayer als Erda oft im deutlichsten Hinter- und Vordergrund die Szene überwacht, in denen sich Ereignisse abspielen, die ursächlich auch von ihr provoziert wurden. Man könnte die neun kleinen Kinder, die zukünftigen Kriegerinnen, nennen, die zusammen mit den in verschiedenen Rot-Variationen aufgetakelten Walküren, die ihren „Ritt“ in einem Beauty-Salon zur Verschönerung nur der äußeren Persönlichkeit absolvieren (Brünnhilde braucht das nicht, weil sie innerlich schön, also moralisch gereift ist), am Sarg Freias eine Art überpathetischer, komischer Trauerfeier veranstalten, nachdem sich die unter Depressionen leidende (kein Wunder bei der Wotanschen Heiratspolitik), vielleicht von Fafner vergewaltigte, unter dem Tod Fasolts leidende Frau kurz nach dem Schlussakkord des Rheingold eine Kugel in den Kopf jagte. Das alles passt übrigens wunderbar zur aufgeregten Eingangsmusik des zweiten Akts, in dem sich, das ist so Schwarzens Weise, Komik und Trauer, Humor und Pathos immer wieder abwechseln; der Ring hält das sehr gut aus. Man könnte zuletzt darauf verweisen, dass Brünnhilde die Todverkündigung in Richtung Fricka singt, weil sie, fremdbestimmt, ihrer Mutter wütend klarmachen will, dass sie eben dies nicht will; ihre Wutausbrüche sind denn auch so deutlich wie ihre Freude über den eigenen Mut, dem Halbbruder beizustehen, wogegen ihr Lover Grane, ein junger Mann mit Pferde(!)schwanz, gewiss nichts dagegen hat; Igor Schwab spielt den Seelenbegleiter Brünnhildes (Grani ist in der isländischen Mythologie Repräsentant der anima) sehr sympathisch. Wir sehen in die Psyche der Figuren, wir erblicken Wotan, wie er, zwischen Selbstmitleid und Trauer um die Tochter zusammenbrechend, sowohl den Monolog als auch den Abschied authentisch gestaltet: als zerrissener, nicht als vollzugewandter Vater, und auch dies ist, trotz der leidenschaftlichen Musik, möglich.

Es gehört zu den Größen dieser detailgenauen Inszenierung, dass das Schlussbild bei aller Nüchternheit so genau gemacht wurde, dass die kühle Analyse der Beziehung zwischen Fricka und Wotan nicht das Pathos zerstört, das die Musik gleichzeitig auftürmt. Nachdem Brünnhilde in die Pyramide abgegangen ist, lässt die Gattin durch einen der Walhall-Diener einen Wagen hineinschieben, auf dem sie, als wär‘s ein date, die typische Romantikkerze und eine Flasche Rotwein platziert hat. Das dreimalige Anstoßen der beiden Gläser  – durch Fricka, nicht durch die Gatten – kommt punktgenau auf Wotans dreimaliges Schlagen der Spitze des Speers auf den Felsen. Das ist so erheiternd wie treffend, so ironisch wie traurig, denn Wotan wird das Versöhnungsangebot seiner Frau ausschlagen. Der schwarze Hut, mit dem die schicke Brünnhilde die Szene betrat, wird nun zum Erkennungszeichen des Wanderers werden, der seinen Ehering im Weinglas ertränkt hat.

Eine Pointe: eine sehr gute, eine, die die Musik nicht zerstört, die Geschichte in der Tat „weiterdenkt“ und als Schlusspunkt eines durchdachten Abends eine bessere Wirkung macht als viele Feuerzauber anderer Walküre-Inszenierungsversuche, die am Widerspruch zwischen Mythos und Moderne scheitern. Zugegeben: Manches wirkt auf den ersten Blick widersinnig, überflüssig, aufgesetzt. Wer, wie nicht wenige Besucher in den Zwischenakten, sich zum ersten oder xten Mal die Mühe macht, den Text – er ist unauschöpflich – zu studieren, wird feststellen, dass sich das Meiste, was Schwarz und sein Team auf die Bühne gestellt haben, auf Anhieb mit den Informationen von Text und Musik verträgt. Wo Widersprüche herrschen, sind es jene Probleme, die jede Familienerzählung auszeichnen – und wo Rätsel  Interpretationslöcher hinterlassen, rettet die Musik selbst dort, wo sie nicht mit der erwartbaren Festspielgüte gebracht wird, vor dem scheinbaren Unsinn.

Man darf also sehr gespannt sein, wie sich die Geschichte des Vaters und der Welterben weiterentwickeln wird.

1 Kommentar

  1. Die einzige positive Kritik, die ich kenne. Mein Eindruck war ein anderer, dass Schwarz, in dem er den Ring zur Familiengeschichte macht, ihn verzwergt. Dass vieles nicht stimmt: wenn Siegfried nicht ausdem Inzest hervorgeht (einem Vorgang, der die Regeln der Gesellschaft fudamental bricht), wieso soll einer, dessen Vater völlig unklar ist, der Held sein, der Wotan aus ei nem selbstverschuldet Elend herauhilft, und eine neue Gesellschaft anstrebt? Schwarz alle ideengeschichtlichen Analysen des Ring beiseitegeschoben und erfindet ihn gleichsam voaussetzungslos neu. DAs geht mit Wagner nicht zusammen, auch wenn Piontek das behauptet. Es ist ein Ring, in dem Wagner verabschiedet wird.

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