Stilpluralismus, Künstliche Intelligenz, Klimaforschung und Social Media – wer die neueste Ausgabe des Museumsjournals aufblättert und die Zeitschrift seit ihrer Gründung vor 36 Jahren kennt, wird die Begriffe, die die Leiterin der Grafischen Sammlung der Berlinischen Galerie auf die gegenwärtige Mode(welt) gemünzt hat, auch auf die Neuerfindung der altehrwürdigen Berliner Museumszeitschrift beziehen – denn genau dies ist sie seit geraumer Zeit eben nicht mehr: „altehrwürdig“. Standen seit einigen Jahren neben den klassischen Berichten über kommende Ausstellungen (von der Steinzeit bis zur Gegenwart) und ausgewählte Artefakte aus der reichen Museumslandschaft Berlins und Potsdams schon Themen auf der journalistischen Tagesordnung, die den engeren Bereich des Wahren, Guten und Schönen der Kunst- und Geschichtsmuseen sprengten, eröffnet das erste Quartalsheft des neuen Jahres ein Panorama, das sich doch relativ wenigen Grundthemen verdankt. Man möchte geradezu von einem „Perspektivwechsel“ sprechen, der nicht nur den an den „Schnittstellen“ von Kunst und Gesellschaft, Mode und Sozialem angelegten Skulpturen Alexandra Birckens bisweilen anhaftet. Das Museumsjournal, schreibt der Chefredakteur Marcus Woeller im Editorial, „wird kritischer, verhandelt aktuelle Diskurse, setzt den Fokus auf Themen, die in der Luft liegen, und gibt weiterhin Einblicke in Forschungsvorhaben und Entwicklungen des Museumsbetriebs“. Letztere aber scheinen nicht ohne die Schwere zu haben zu sein, die bleischwer in der Luft hängt zwischen der allüberall sich eingenisteten Diskussion über das Erbe des Kolonialismus und dem Kanon der Kunst, der einmal war. „Kanon? Manche, die in Museen über das Programm entscheiden, wollen das Wort nicht mehr aussprechen, höchstens in entscheidender Verantwortung. Den Kanon gebe es nicht mehr, hört man aus der Neuen Nationalgalerie, die zur Wiedereröffnung des Mies-Baus (selbst ein kanonisches Bauwerk) die Sammlungspräsentation mit viel Mühe neu geordnet hat. Anderen geht der Begriff ganz selbstverständlich über die Lippen. Mit dem Kanon wird jedenfalls gerungen, er wird ergänzt, diversifiziert, hier dekonstruiert, da respektiert.“ Das Autorenteam – neben Woeller ganzheitlich weiblich – zeigt, von den Überlegungen zu einem offensichtlich halbhistorisch gewordenen Begriff ausgehend, welche Entdeckungen zu machen sind, wenn vergessene Künstlerinnen und Künstler wieder- oder zum ersten Mal entdeckt werden; Lotte Lasersteins Meisterinnenwerk von 1929/30, „Ich und mein Modell“, sagt uns, folgt man den Autoren, wieso es sinnvoll ist, den Blick zu heben und sich, wie die Kuratorinnen des Verborgenen Museums, für die „Anderen“ zu begeistern, die, man liest das sehr deutlich, nach einem harten Kampf an den machistischen Museumsfronten inzwischen langsam die Museen erobern, oder besser: von den männlichen Kollegen dekolonisieren.
Dass die Moderne nicht umstandslos mit dem Fortschrittsbegriff alter Prägung vereinbar ist, machen nicht zuletzt die Überlegungen zur Gauguin-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie klar, auch wenn der Leser den Eindruck hat, dass die Frage, ob Gauguins Tahitibilder im Zeitalter des Diskurses über sexuelle Selbstbestimmung und koloniale Praktiken überhaupt noch ausstellbar sind, angesichts der stupenden Qualität des Malers unlösbar scheint. Sogar im Spielzeugmuseum lösen sie gewisse Probleme jetzt durch nicht weniger als zwei Planstellen für die Aufarbeitung der Kolonialismusschäden. Ein Puppenhaus mit Kaffeeküche ist eben nicht mehr ohne die Negative Kritik zu haben. Dagmar Hirschfelder, die im Germanischen Nationalmuseum die Abteilung der Kunst von 1500 bis 1800 betreute und nun zur Direktorin der Gemäldegalerie ernannt wurde, gibt die klügste Antwort auf die im Zeitalter der Verklemmtheit und politischen Überkorrektheit mögliche Zumutung, einmal große Bilder mit weiblichen Nackten (wie in den USA) abhängen zu müssen: „Das kommt einem Bildersturm gleich. Nur die Auseinandersetzung mit der Geschichte, auch mit frauenfeindlichen Bildern beziehungsweise mit der Vermittlung stereotyper Rollenbilder durch die Kunst, lässt uns unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart verstehen.“ Dagmar Hirschfelder ist eine kluge Frau, die erkannt hat, „dass die Kunstwerke trotz dieser problematischen Aspekte sehr vielschichtig sind und in ihrer Gesamtheit zur Entwicklung unserer Kulturgeschichte beigetragen haben. Das A und O bei dieser Frage ist aus meiner Sicht die kritische Auseinandersetzung und der Dialog.“
Am benachbarten Haus, der Neuen Nationalgalerie, kam ein Dialog mit einer bestimmten Benutzergruppe schon mal nicht zustande. Der Fall ist nicht ohne Ironie: Wird im Futurium versucht, „die Zukunft als Chance zu begreifen“, wird auf der Plattform vor dem Mies-Bau die Gegenwart ausgebremst. „Skaten verboten“, heißt es am Haus; der Wachdienst patrouilliert, das aufwendig renovierte und ertüchtigte Gebäude werde, heißt es, durch die Jungsportler geschädigt. So kommen, denkt sich der Leser, Ökologie, Soziales, Ökonomie und Kultur, die vier Säulen der Nachhaltigkeit, gewiss nicht zusammen. Tolle Kunstentdeckungen holt man sich also im Heft, in dem einige Werke zwischen Gustave Caillebottes Pariser Straßenansicht und der Gegenwart durch die Augen der Museumsdirektoren und Kuratoren zum Kanon geschlagen werden: völlig unabhängig von den Leiden des Postkolonialismus, der Frauenverachtung und den Anmutungen einer entmenschenden Globalisierung, die bereits von Karl Marx und Richard Wagner (zwei Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum) beschrieben wurde. Wo die Raserei nicht allein dort ausstellungswürdig wird, wo die Autoraser zum Expositionsthema werden, eröffnen sich der soziolologisch-kulturkritischen Sicht auf die Museumsobjekte schönste Möglichkeiten, die Berliner Museen in eine Zukunft zu bringen, in der auch jene Stücke ihren Platz finden, die vor 100 Jahren mal mehr, mal weniger prophetische Zukunftsvisionen (wie das Bildtelefon) ausmalten. Katja Weber zitiert in ihrem Beitrag über die Back to the Future-Ausstellung im Museum für Kommunikation den österreichischen Philosophen Elmar Waibl, der 2003 in Tage der Utopie Folgendes schrieb: „Dass eine notorische Unzufriedenheit uns Menschen vorantreibt und das Bedürfnis nach permanenter innerweltlicher Grenzüberschreitung generiert, zeigt sich in einer Unruhe, die kein ‚Genug‘ zu kennen scheint.“ Für die Autoren des Museumsjournals liegt im „Weiter, aber nicht weiter so“ der Antrieb, um Kunst und Geschichte weniger nach abgeschlossenen Kriterien als nach drängenden Gegenwartsfragen zu beurteilen – denn die Kontexte, schreibt der Chefredakteur, in denen Gauguins Bilder diskutiert werden, seien brandaktuell: Kolonialismus (da ist er wieder), Globalisierung, Identität und Emanzipation. Was am Ende der Lektüre des Hefts, das in vielerlei Sinn den state of art repräsentiert, die Frage provoziert, ob hier nicht, weil‘s nicht anders sein kann, nur die alten Ideologien durch neue ersetzt werden. Was aber bleibt, stiften die Bilder – auch wenn die wirklich guten keine allseits passenden Antworten geben, sondern glücklicherweise so schillernd bleiben wie ihre Produzenten.
Museumsjournal. Ausstellungen in Berlin und Potsdam. Heft 1/2022. 110 Seiten. 8,50 Euro.