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Samstag, 20. April 24

Und trotzdem

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MUH – Vom Weltbayerntum

Blick in die BlätterMUH - Vom Weltbayerntum

Cannabis – Antisemitismus in Bayern – die Zeile unter dem Titel fällt schon durch die fetten Kursive auf. „Bayerische Aspekte“, so lautet der Untertitel der Zeitschrift, die unter „Kultur“ nicht die Folklore, sondern eine liberale Politik versteht, die Kunst und Kritik, Tradition und Erneuerung ineins setzt. MUH heißt das Blatt; Rinder sind aufmerksame Zeitgenossen, und Bayern wird als Weltbayerntum verstanden. Von einem solchen Weltbayern, Sixtus Lampl, wird auch berichtet. Der alte Herr hat Dutzende von historischen Orgeln gerettet und sich als vergleichsloser Orgel-Artenschützer bewährt. In Valley tümelts nicht, es wird gearbeitet. Geschichten wie die vom Lampl machen selbst dann Mut, wenn man weiß, dass der Kampf gegen die Bayerische Kulturvernichtung nicht immer erfolgreich ist. Der Versuch des Sammlerehepaares Grill um eine „Bayerische Pinakothek“ in der Landeshauptstadt endete mit dem Verkauf der Kollektion nach Österreich. Chance vertan, denkt sich der Leser, der sich nicht darüber wundert, dass ökonomisch-soziale Interessen oft niedriger gehandelt werden als wirtschafts- und kommunalpolitische Egoismen. Bayern ist ein Kulturstaat (O-Ton der Bayerischen Verfassung)? Jein. MUH macht klar, wo es hakelt – und dass die „Gemütlichkeit“ der großen Volksschauspieler ein Irrtum ist, der im Auge des tümelnden Betrachters liegt. Gustl Bayrhammer wird im Heft eine ausführliche-bilderreiche und problembewusste Studie gewidmet, die das Biographische, Künstlerische und Politische parallelisieren kann, weil eben alles parallel lief bei diesem Schauspieler: die Arbeitswut wie die Wut gegen die Republikaner und die neuen Nazis. Sein Text von 1993 ist, sagt Christian Selbherr, „von einer großen Wucht, der leider nur wenig von seiner Aktualität eingebüßt hat.“ „Wir haben“, schrieb Bayrhammer, „an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, ja, eines neuen Jahrtausends, im Zeichen der Satelliten und TV-Kanäle, die große Chance, geistig zusammenzurücken, die Kulturen und Völker dieser Erde kennenzulernen, neugierig über frühere und jetzige Grenzen hinauszuschauen. Nicht ein Land sei uns heilig oder über alles, unsere Erde sei uns heilig, denn ohne sie gäbe es kein Land und auch nicht uns und auch nicht die anderen.“ Die höchste Kulturstufe wird sicher nicht dort erklimmt, wo eine Chiemgauer Felsenkellerdiskothek seiner Existenz beraubt wird, weil ein staatlich gebauter und gefeierter Tunnelbau dem Musik- und Tanzclub nicht das Wasser abgräbt, sondern dasselbe geradezu in ihn hineinpumpt – wer die Macht hat, haftet im „Kulturstaat“ Bayern nicht einmal für solche Katastrophen. Von selben Qualitäten zeugen einige Leserbriefe, in denen unnötige Flächenversiegelungen aufs Korn genommen werden – auch die „Post an die MUH“ ist Kultur, denn auch Lebensflächen müssen, wie alte Orgeln, geschützt werden: so wie das Licht. „Lichtverschmutzung“, was für ein Wort! Die Chiemgauer Initiative Paten der Nacht verschrieb sich dem Kampf gegen den antiökologischen Unsinn, übrigens auch einem Bayern-Rekord, woran wir sehen, dass Bayern schon sehr besonders ist. Schade also, aber auch konsequent, dass Walter Sedlmayer (die Reihe Charakterköpfe entwirft ein feinfühliges Porträt) zunächst in eine falsche Ecke gestellt wurde: „Weil dicke Mimen“, schreibt Michael Zametzer, „in der Nachkriegszeit zunächst noch dünn gesät sind, wird der junge, damals schon korpulente Schauspieler mit Halbglatze konsequent fehlbesetzt, in oft lächerlichen Nebenrollen.“ Der Leser ist dankbar für solche Tiefenschnitte.

MUH bietet aber auch das Ineinander von „Bierkultur und Kleinkunst“, von Kinderseite und einem „Wohlstandsleuchten“, das so anheimelnd anmutet, bis wir mit dem Hinweis auf Fotodokus und Filme in die Gegenwart des russisch-ukrainischen Kriegs gestoßen werden. Auch das ist echt bayerisch, weil es sich die bayerischen Fotografen, Autoren und Filmemacher nie nehmen ließen, den Finger auf die wunden Weltpunkte zu weisen. Es ist vieles schiach, aber hübsch schiach sind die dunklen Bilder eines Benjamin König, denen die Bayerwaldmenschengesichterfotos des Analogfotografen Martin Waldbauer und Barbara Niggl Radloffs Fotoreportage aus dem Bauernleben anno 1976 an die Seite gestellt werden können. „Gmiatlich“ ist hier nichts, eindrücklich alles. MUH gelingt es, in einem Heft auf die ökosoziale Transformation und auf die zeitlos scheinenden Innen- und Außenwelten des tiefsten Bayern hinzuweisen. Waldbauer druckt seine Fotos auf Papier, das bis zu 80 Jahre alt ist, während Sebastian Gift von der Münchner Suchthilfeorgansisation Condrobs e.V. gut begründet für die Entkriminalisierung der in Bayern strafverfolgten Drogenkonsumenten argumentiert. Bayern ist auch Franken, doch für fränkische Leser hat MUH in seinem Winterheft nur wenig übrig: die Diskussion um das in die Jahre gekommene Nürnberger Opernhaus und die Ersatzspielstätte NS-Gelände wird wirsch und nicht besonders kundig kommentiert, denn was sollte man, wenn man einen Neubau eröffnen sollte, mit dem Theateraltbau anfangen? Die Frage wird nicht gestellt, stattdessen ausgeteilt: „Mit dieser erwartbar mutlosen, aber teuren Schwerpunktsetzung [der Sanierung des Altbaus] wird Nürnberg auf Jahrzehnte ein kultureller Elefantenfriedhof bleiben.“ Man wundert sich nicht, wenn man den Herkunftsort des wurdelnden Peter Kunz liest: er lebt im verfeindeten Fürth, daher weht also der Wind. Was MUH jedoch an optischer und inhaltlicher Qualität und Fülle, an Bayerischen Aspekten jenseits einer bloßen Goaßgschau bietet, die den Sinn fürs Ganze und für die schönen und unschönen Dinge schärfen, ist viel. Wie „Gustl der Große“ sagte: „Dass das Bairische nicht nur fürs volkstümliche Kasperltheater taugt, sondern echte Dramatik und tiefe Abgründe beschreiben kann“. Insofern gehören ein Gespräch mit den Münchner Gründerinnen des jüdischen Onlinemagazins Hagalil und Thomas Heilige Nacht durchaus zusammen. 

MUH 43 (Winter 2021/22). 96 Seiten. 8 Euro.

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