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Kultur ist Lebensbereicherung. Ein Gespräch mit Christian Thielemann

Bayreuther FestspieleKultur ist Lebensbereicherung. Ein Gespräch mit Christian Thielemann

Vor dem Theater stehen die Schlangen von Wartenden. Alle schick gekleidet in Smoking und Abendkleid. Die Stimmung ist, wie immer an solchen Abenden, heiter angespannt. Es liegt Musik in der Luft. Während die Menge bereits Platz nimmt, erscheint am Bühneneingang ein junger Mann mit einem leeren Geigenkasten in der Hand. Pro­blemlos kommt er am Pförtner vorbei und schleicht in den Block B. Hier kann er ungestört auf der Treppe sitzen und sich der Musik hingeben. „Das war ein Abenteuer“, sagt Christian Thielemann Jahrzehnte später. Und heute ist so etwas leider kaum noch möglich. Dabei sollte der Zugang zur Kultur für Kinder und junge Menschen unbedingt gefördert werden. „Damals kam man für fünf Mark in das ‚Theater der Schulen‘.“ Hier konnte man als Kind die ganz Großen sehen. „Das war ein ganz wichtiger Initiator meiner weiteren Entwicklung hin zum Dirigenten.“ Erzählt Thielemann bei unserem Gespräch in der Bayreuther Buchhandlung. Es sind noch wenige Tage bis zum Beginn der Bayreuther Festspiele 2021 und wir haben uns vorgenommen, über den Kulturbegriff zu sprechen. Zunächst aber wird geplaudert. Und plaudern mit Thielemann heißt: Über Musik zu sprechen. Nein mehr, viel mehr. Man beginnt die Musik zu hören, sie zu fühlen und vor allem sie zu verstehen. Die Begeisterung des Dirigenten überträgt sich auf den Zuhörer und man kann nur ahnen ob der Euphorie, die einen bei den Schilderungen ergreift, mit welchem Rausch der Abend im Konzertgraben verbunden ist. 

Darf sich auch ein Dirigent berauschen? Muss er das Orchester nicht völlig unter Kontrolle haben? Auf die Frage, wie das Verhältnis von (eigener) Begeisterung und Disziplin, von Emotion und Handwerk aussieht, hat er, sagt er, eine gute Mittelposition gefunden: „Man kann dort fortgetragen werden von der Musik, wo man es sich erlauben kann“. Die Weisheit kommt auch mit dem Alter – er hat inzwischen erkannt, dass Richard und Rock gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Klingt das berühmte Adagietto aus Mahlers 5. Symphonie nicht so, als könnte man sehr gut dazu knutschen? Und könnte man den jungen Leuten (und allen anderen, denke ich) nicht zeigen, dass ein Song von Madonna in seinen harmonischen Entwicklungen nicht gar so weit entfernt ist von bestimmten Stücken der sog. Klassischen Musik, die einen völlig legalen Rausch erzeugen? Und geht es bei Bruckner, dessen erste fünf Symphonien einschließlich der ganz frühen er gerade mit den Wienern eingespielt hat, nicht zunächst einmal darum, Atmosphäre zu schaffen? „Sehen Sie, in Strawinskys ‚Sacre du printemps‘ gibt es so schöne lyrische Stellen, die muss man herausarbeiten“ – so wie er dafür plädiert, eine Beethoven-Symphonie mit Tempi zu spielen, die in keiner Partitur fixiert wurden. Das macht: die Freiheit des Dirigenten gegenüber dem lebendigen Kunstwerk. Beweglichkeit, nicht Dogmatismus. Christian Thielemanns Interesse an der Geschichte dürfte daher nicht zuletzt in einem ästhetischen Moment liegen. Dass er ein bedeutendes Buch über die Kunst- und Bewohnergeschichte eines zerstörten ostpreußischen Schlosses (Schloss Friedrichstein) mit auf den Weg brachte, hat mit zweierlei zu tun: dem Wissen, dass wir alle nicht aus dem luftleeren Raum kommen, sondern Vor-Geschichten haben, und der Freude an der Schönheit, die mit einem prachtvollen Barockbauwerk und einstigen Kulturmonument verbunden ist, um dessen literarische Rekonstruktion sich zu kümmern nicht allein ihm großen Spaß macht. „Ach wissen Sie“, sagte er einmal während der Buchvorstellung, „es gibt ja noch viel mehr als die Musik…“.

Jetzt kommen wir zum Kern der Frage: Was ist Kultur? „Kultur kann den Menschen einen höheren Sinn des Lebens, eine höhere Daseinsstufe ermöglichen.“ Sagt Thielemann und ergänzt: „Ein Leben ohne Kultur ist kein Leben, Kultur ist Lebensbereicherung.“ Und deswegen sei es eminent wichtig, Kultur zugänglich zu machen. „Das fängt natürlich in der Schule an. Zwei Mal im Jahr ins Theater gehen, Kunst- und Musikunterricht fördern, Klassenreisen unternehmen.“ Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. „Es geht darum, den Kindern zu zeigen, wie vielfältig das Leben ist.“ Aber man braucht gar nicht so hoch zu greifen. Ein Sonntagsausflug mit den Eltern, eine Radtour, ein Spaziergang. Auch hier beginnt Kultur. „Und in Bayreuth sind die Möglichkeiten ja vielfältig!“ Und das Essen – auch Kultur. „In Bayreuth nimmt man immer zu, weil es hier so gut schmeckt!“ Das hört man natürlich gerne und nicht umsonst sind wir ja auch Genussregion. Das Wichtigste aber ist, Kultur ist friedensstiftend: „Jeder Mensch hat Sucht nach Harmonie, und Kultur trägt zur Harmonie bei“. Ein hervorragender Gedanke! Wir jedenfalls bedanken uns für das harmonische Gespräch. Ein Gespräch, in dem man sich schon eine gute halbe Stunde lang über die verschiedenen Fassungen der Symphonien Anton Bruckners und die richtige Tempowahl bei Beethoven unterhält und sich schließlich daran erinnert, dass es einmal Städte und Schlösser gab, in denen geistige und materielle Güter geschaffen wurden, die uns immer noch erfreuen und zum Nachdenken bringen – auch dieses Gespräch, scheint uns, ist genau das, worüber es handelt: Kultur, verbunden mit Kreativität und Freude. Und wäre „Klassik zum Knutschen“ nicht ein guter Titel für eine Klassik-CD, die das alles verbindet?

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