Ursprünglich sollte die Neuinszenierung des Werks schon 2020 herauskommen. Wir wissen, was den Spielplan seinerzeit zur Makulatur machte. Ist die Kargheit der Bühne also auf die Sparmaßnahmen zurückzuführen, die in Folge der Theaterschließtage über die Bühnen kamen?
Man möchte es nicht annehmen. Die Frage nämlich, ob eine fantastische Märchenoper vom Schlage der „Frau ohne Schatten“ eine üppige Ausstattung benötigt, um wirken zu können, kann leicht beantwortet werden: Da auch diese Oper auf dem Theater spielt und es um Menschenschicksale geht, benötigt man „nur“ – neben der exzellenten musikalischen Interpretation mehrerer Hauptsänger, einem Riesenorchester und einem Chor – die Figuren selbst. Denn das Drama der „Frau ohne Schatten“ ist ein Märchen, das, so der Regisseur Jens-Daniel Herzog, im Grunde ganz einfach ist. Es geht um die Beziehungsschwierigkeiten zweier Paare, die im Lauf des Stücks nicht zusammenkommen, sondern nach ihrem Zusammenkommen recht eigentlich zu mitleidenden, mitfühlenden, sich selbst und des anderen bewussten Individuen werden – dies gilt wohl selbst für den guten Färber Barak, dem Gegenpart zu (s)einer Frau, die, wieso auch immer, aus ihrer engen Haut nicht herauszuschlüpfen vermag. Der Schatten, den die Kaiserin nicht wirft, kann zwar als Symbol einer ausbleibenden Mutterschaft interpretiert werden (der Dichter Hofmannsthal hat, kurz vor dem ersten Weltkrieg zeitgemäß ganz modern, dem Libretto eine biopolitische Ebene eingezogen), unter dem sowohl die „hohe“ wie die andere Frau ersichtlich leiden. Er ist jedoch mehr: der Ausweis eines aktiven sozialen Lebens, der nur in Taten, nicht in Worten beweisbar ist – daher auch die Kaiserin in der entscheidenden Prüfung darauf verzichtet, zugunsten der Rettung ihres Mannes das Unglück der Färberin zu verschulden, die mit ihrem verkauften Schatten ihre Mutterschaft und ihre Identität (wir wissen das aus Chamissos Geschichte vom Peter Schlehmil) verlieren würde. Die Probleme, die sich aus der Verurteilung der Amme der Kaiserin und dem Verzicht auf Rettung ihres eigenen Mannes ergeben, bleiben freilich bestehen, können wohl auch nicht durch eine eindeutige Interpretation aufgehoben werden – und sollen es, folgen wir dem Dichter, wohl auch nicht. Dies eben macht die Freiheit der Interpretation an einem großen Kunstwerk aus.
In Nürnberg tut man erst gar nicht so, als hätte das Werk, dessen Leben, seien wir ehrlich, heute zuerst durch die Musik bestimmt wird, eine pseudorientalische Bühne oder exotische, fantastische, bildmächtige Bühne nötig. Die Hauptsache wird von den Musikern und den Sängern geleistet. Nichts fehlt, wenn eine Art „Mobile“, ein sehr offener, von Johannes Schütz entworfener zweigeteilter Raum nüchternster Natur, von sichtbaren Händen bewegt wird und unsichtbare Hände auf der Kreisbühne eine Projektionsfläche von links nach rechts bewegen. Das Falknerhaus im Wald wird zum Wohnwagen einer auch metaphysisch unbehausten Existenz, der zum Glück auch, aber nicht allein die Kinder fehlen, die bereits, ein wenig wie Gespenster, als bleiche Gestalten die Bühne bevölkern. Am Ende werden die „Ungeborenen“ alle eine Riesenparty feiern: mit den aus der Projektionsfläche gewonnen Papierfetzen als Spielmittel, mit neuer Kaiserin und Kaiser, Färber und Färberin.
Auch der Falke ist als Figur präsent: als großer Aufsteller – und als junge Frau; Andromahi Raptis ist ein betörender, auch böser Falke aus dem „Geisterreich“, der abschätzig ins Menschen-Publikum zu blicken hat und seinen Teil am Spiel hat. Die Menschen: das sind der Kaiser – Tadeusz Szlenkier singt ihn mit großer, bisweilen zu großer Stimme – und die Kaiserin, um die, so Hofmannsthal, alles ginge. Mit Blick auf die auch musikalische Präsenz der Färberin könnte man allerdings daran zweifeln. Agnieszka Hauzer gastiert hier mit dramatisch flackerndem Strauss-Sopran – und so wie sie darf die Färberin der Manuela Uhl mit mächtigster Stimme, die wie geschaffen scheint für Riesenhäuser, in die Ohren der Zuhörer dringen. Thomas Jesatko spielt und singt einen Barak wie aus dem Bilderbuch, während Lioba Brauns Amme ihre besten Tage schon gesehen hat; die scharfe, dramatisch packende Verurteilung zumal durch den Geisterboten bleibt einer jener reizvollen Widersprüche des Werks, die die Beschäftigung mit ihm schlicht abschließbar machen.
Vieles ist ernst an diesem Abend, auch wenn der Auftritt des zauberischen Jünglings und der von der Amme daherimaginierten Dienerinnen ohne Not – durchaus gegen den Sinn der gesamten Inszenierung, die auf dumme Witze und sonstige Einfälle ansonsten verzichtet – ins Ironische gezogen wird. Strauss aber hält das aus, zumal die Staatsphilharmonie unter der Leitung der GMD Joana Mallwitz die Wunderpartitur des Komponisten mit allem Glanz und allem Pomp, allem tief berührendem Sentiment und aller ausgepichten Moderne souverän und sehr durchhörbar zum Leben erweckt. Der Abend ist nicht zuletzt ein gigantischer Leckerbissen für alle Musikfreunde, die gern analytisch hören und sich gleichzeitig vom Strom der Musik fortreißen lassen wollen – wozu nicht zuletzt die scheinbare Kargheit einer Bühne verhilft, die, unspektakulär und doch interessierend, aufs Wesentliche setzt: den singenden, die Probleme menschlich darstellenden Menschen.