Ein Tag nach dem Holocaust-Gedenktag gefragt: Was blieb verloren? Nicht allein durch den verfrühten Tod eines Viktor Ullmann wird der Verlust an möglicher Kunst und Kultur gleichsam ohrenscheinlich. Ullmanns Ermordung verhinderte nicht nur die Vollendung der Oper Der Kaiser von Atlantis, sondern auch die Instrumentation der 1944 , also nur drei Wochen vor seinem Abtransport nach Auschwitz komponierten Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Allein Ullmanns Zyklus wirkt schon in der Fassung für Klavier und Sprecher eindringlich. „So fügt er seine Worte – zu Lust, zu Leide?“ Ersetzt man das Wörtchen „Worte“ durch „Musik“, wird Ullmanns Musik als Zeitzeugnis verständlich. Der Schüler Arnold Schönbergs pflegte auch hier einen expressiven, aber klaren, einen auf süffige Weise lakonischen Ton, der scheinbar von den Entstehungsumständen absieht. Nur im horndurchtosten Anritt auf ein Schloss und im Schlussteil wird es heftig bewegt: „Aber die Fahne ist nicht dabei“, die Katastrophe bricht in die Welt, die Lyrik wird zerstört – bevor wieder das fortwährende Reiten beginnt, mit dem das Stück begann, das Reiten, eine Metapher für das lebensgefährliche Leben. Erstaunlich bleibt, was die Theresienstädter Musiker ihm abgewannen. Letzten Endes überlebten sie jene, die ihren physischen Tod auf dem Gewissen haben. Was bleibt, sind einige der bemerkenswertesten Musikstücke des 20. Jahrhunderts, die auch ohne Ghetto-Bonus ihre Vitalität beweisen – den Vernichtern erfolgreich zum Trotz: bis heute.
Glücklicherweise blieb die Klavierfassung von Viktor Ullmanns Cornet-Vertonung – wie so viele andere der in Theresienstadt entstandenen Kompositionen – erhalten. Damit lieferte der Komponist zwar nicht die erste, auch, neben Kurt Weill, Max von Schillings, Frank Martin u.a., nicht die letzte, aber die vielleicht bedeutendste Musik zu Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Der seinerzeit außerordentlich beliebte Text, in dem sich zu Zeiten des ersten Weltkriegs eine ganze Generation wiederzuerkennen meinte, wurde später noch von Siegfried Matthus als Oper auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin gebracht; kein Geringerer als Maximilian Schell inszenierte 1984 die Uraufführung. Wenn das Jewish Chamber Orchestra einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag Ullmanns konzertantes Stück innerhalb der Reihe 1700 Jahre Jüdisches Leben in den Europasaal des „Zentrums“ bringt, braucht man keine Szene, um die Dringlichkeit und Schönheit dieser unter erbärmlichsten Umständen geschriebenen Musik zu fühlen – Bernd Thewes erstellte eine Fassung für 13 Instrumente, die den Sprecher mit einem konzentriert gekürzten Cornet-Text zu begleiten haben. Ullmanns luzider Tonsatz, der als Klaviersuite schon glänzt, entwickelt in der Farbfassung von Thewes eine luzide Couleur, die die Nähe des Komponisten zum Lehrer Schönberg, aber auch zu Bergs Kammermusiken offenbart; was wir hören, ist ein Wiener Klang der zweiten Wiener Schule aus zweiter, aber nicht aus unreiner Hand.
Worum geht‘s? Fritz Schwiefert war 1912/13 der erste Rezensent, der Rilkes vergleichsweise schlackenlosen, leidenschaftlichen und gleichzeitig strengen Prosatext genauer charakterisierte: „Eine Aufzeichnung der Familienchronik, wonach Christoph von Rilke als Cornet in der Kompagnie des Freiherrn von Pirovano des kaiserl. österr. Heysterschen Regiments zu Ross im Kampfe gegen die Heiden in Ungarn gefallen war, gibt den Stoff für eine Ballade, die in zyklischer Weise einzelne Stimmungsbilder und Impressionen zu einem epischen Ganzen zusammenfasst, das die beiden Grundmotive der Dichtung ‚Liebe‘ und ‚Tod‘ in die Schale einer kurzen Stunde rauschend zusammenfließen lässt.“ Ullmann illustrierte nicht den Rilke, oder anders: Seine sensitive Begleitung zur historisch-gegenwärtigen Szene erschöpft sich nicht im Micky-Mousing, auch wenn wir hier ein Ritt-Motiv, dort einen Tanz, endlich Schlachtlärm hören. Die Instrumentation mit diversen Soloinstrumenten macht‘s, dass die geraden Linien des Klaviersatzes gleichsam impressionistisch-expressiv aufgespalten werden; das Ergebnis ist, man kann‘s nicht anders sagen, klanglich wunderschön. Das Jewish Chamber Orchestra spielt unter seinem Leiter Daniel Grossmann, der Sprecher heißt Stefan Merki, sie machen ihre Sache vollkommen. Voilà: ein Hauptwerk der Wiener Moderne hat endlich seine bannende Erstaufführung in Bayreuth erlebt.
Weiterhin erstaufgeführt wurde die von Pierre Hoppé notierte Instrumentalfassung von Gustav Mahlers 14 Liedern und Gesängen aus der Jugendzeit: nur wenige hundert Meter nördlich von einem Haus in der Rathstrasse, in dem Mahler einmal ein paar Tage genächtigt hat. Wir kennen diese Lieder entweder in Mahlers Klavierfassungen oder in seinen späteren Orchesterversionen, die sich im Notentext hier und da von den Erstfassungen unterscheiden. Einige von ihnen wurden weltberühmt; Zu Straßburg auf der Schanz und Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald zählen zu den Juwelen des Mahlerschen Liedgesangs, aber schon in den unbekannteren Gesängen ist der ganze Mahler schon zuhaus: der Mahler der Wunderhorn-Vertonungen und der Symphonien, die den Liedkompositionen so viel verdanken. In Bayreuth steht der elegant artikulierende, so ausdrucksstark wie nobel sich aussingende Bariton Ludwig Mittelhammer auf der Bühne, begleitet wird er von nur acht Musikern, aber was heißt hier „nur“? Acht Instrumente genügen, um den Klang- und Ausdrucksreichtum der Lieder auszuloten: Flöte, Klarinette. Violine, Viola, Violoncello, Klavier, Schlagzeug – und ein Akkordeon, das eine fremdartige Färbung ins Spiel bringt, also ganz dem zwischen Landstraße und Konzertsaal schillernden Charakter der Lieder angemessen.
Starker Beifall für ein außergewöhnliches Doppelprogramm.