Der Philosoph Theophrastos von Eresos wäre heute vermutlich nur noch wenigen Spezialisten bekannt, hätte er nicht am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. eine köstliche Sammlung zusammengestellt, die unter dem Titel Charaktere bis heute bekannt ist. Isaac Casaubonus rühmte 1592 die 30 Skizzen als „goldenes Büchlein“ – kein Wunder: die konzisen Porträts des Schmeichlers, des Redseligen, des Schwätzers, Abergläubischen, Prahlers und Geizigen vermögen noch die Charaktere der Gegenwart zu zeichnen.
Theophrasts Meisterstück hat in der frühen Neuzeit eine Wiederauferstehung erlebt, von der das Buch kündet, das 1743 zum wiederholten Male herauskam. Verfasst wurde es von Jean de La Bruyère, der mit ihm zugleich unsterblich wurde. Er war es, der 1688, im Alter von 43 Jahren, beim Verlag Michallet seine Übersetzung zum Druck befördern ließ, die eine Fülle von Nachahmungen – man zählt bis 1917 in Frankreich nicht weniger als neunzig weitere Sammlungen von Charakteren – provozierte. In Deutschland war es der große aufgeklärte Dichter und Denker C.W. Gellert, der in seinen Moralischen Vorlesungen und Fabeln und Erzählungen den Geist Theophrasts und des französischen Übersetzers weiterleben ließ. Wer aber war dieser Jean de la Bruyère?
Bruyère war, soviel kann man sagen, ein in Diensten des französischen Adels stehender Freigeist. 1645 wurde er in Paris geboren, Jurastudium, Anwalt am Parlement (dem höchsten Pariser Gericht), ab 1673 ein Amt in der Finanzverwaltung, also pro forma in Caen, aber Bruyere lebte weiterhin als Rentier an der Seine und beschäftigte sich als Privatgelehrter. 1684 erhielt er ein nobles Amt: er durfte als Hauslehrer des Duc de Bourbon, der zu einer königlichen Seitenlinie gehörte, seine Zeit nutzen, wobei er auch noch nach dessen Heirat als „gentilhomme“ und Sekretär in seinen Diensten, in Paris, Chantilly und Versailles, leben konnte. 1693 konnte er mit Unterstützung Ludwigs XIV. zum Mitglied der Académie française ernannt werden: interessanterweise auf der Seite der traditionalistischen „Anciens“, nicht als Kämpfer für die „Modernes“, die er mit seiner Antrittsrede bewusst provozierte. Gestorben ist er 1696 – acht Jahre nach der Veröffentlichung seiner Charaktere.
Vielleicht hätte er sich nie auf die Spuren Theophrats begeben, hätte er nicht zum einen die Muße zum Privatstudium der antiken Schriften gehabt und wäre er nicht andererseits im unmittelbaren Umkreis des Königshofs tätig gewesen. So übersetzte er nicht allein den griechischen Text, sondern fügte der Sammlung eine Kollektion eigener Beobachtungen an. Die Charaktere von Theophrast, aus dem Griechischen übertragen, mit den Charakteren oder Sitten unseres Jahrhunderts, so lautete der Buchtitel von 1688, dem nicht weniger als neun Auflagen folgten, die er peu a peu um weitere Darstellungen sozialer Typen erweiterte, wobei er, wie es im großen Internet-Lexikon zurecht heißt, „mit Vorliebe bestimmte adelige und pseudoadelige Verhaltensweisen, aber auch allgemeine menschlich-allzumenschliche Schwächen, Manien und Ticks aufs Korn nahm“. Das Werk schlug ein: Nicolas de Malézieu meinte, dass es dem Autor „viele Leser und viele Feinde“ einbringen würde, weil man, wohl nicht zu Unrecht vermutete, dass hinter den einzelnen (korrupten und eingebildeten) Charakteren wirkliche Zeitgenossen am Königshof standen. Thomas Corneille und Bernard Bovier de Fontenelle konnten sich ertappt fühlen. Dass der Autor erst mit königlicher Protektion in die französische Akademie aufgenommen werden konnte, in der viele von Bruyere angegriffene perrsönlichkeiten saßen, versteht sich von selbst.
Die Edition, die 1743 beim Verleger François Changuion in Amsterdam herauskam, basiert auf einer 1739 herausgegebenen Fassung, deren Vorwort von Emanuel-Jean de la Coste (dem Buchhändler, der sich aufgrund des Vertriebs der Musikdrucke des Amsterdamer Verlags Estinne Roger einen Hauch von Unsterblichkeit erwarb) zusammen mit dem Avertissement der Editionen von 1731 und 1733 sowie einer Widmung des Verlegers den Band eröffnet. Die Widmung des “pikanten” Buchs, das sich als ein Werk der Aufklärung versteht, ging nicht an einen Dichter oder Philosophen, sondern an einen Generalgouverneur: an Gustaaf Willem Baron van Imhoff (1705-1750), der im niederländischen Ost-Indien seinen Dienst tat: als ein typischer Kolonialist der Epoche. Sein Bildnis wurde, nach einem Porträt von Jan Maurits Quinckhardt, das sich heute im Rijksmuseum Amsterdam befindet, vom höchst renommierten Jakob Houbraken gestochen (wobei es sich um die vereinfachte Fassung einer mit Allegorien reicher ausgestatteten Version handelt), während das Konterfei des Autors von Jacob Folkema nach dem Porträt des 1695 verstorbenen Jean Dieu de Saint Jean im Buch verewigt wurde – womit aus der Edition ein kleines bibliophiles Kunstwerk wurde.
Die Edition von 1743 ist sehr selten im Buchhandel anzutreffen. Bei Breuer & Sohn wird der erste von zwei Bänden angeboten.
Jean de la Bruyère: Les Caracteres de Theophraste. Avec les caracteres ou les moeurs de ce siecle. Nouvelle edition augmentée de quelques Notes sur ces deux Ouvrages, & de la Defense de la Bruyere & de ses Caracteres, par M. Coste. Bd. 1 (von 2). Verlag Changuion, Amsterdam 1743. 479 Seiten. Mit zwei Porträtgraphiken von Jakob Houbraken (nach Jan Maurits Quinckhardt) und Jacob Folkema (nach Jean Dieu de Saint Jean) auf Tafeln und einem Titelkupfer. 479 Seiten. Format: 16,5 x 10,5. Zeitgenössischer Ledereinband mit vergoldeter Rückenprägung und vergoldetem Rückenschild. Preis auf Anfrage.