Im hinreißenden Dunkel

Die Studiobühne Bayreuth spielt Der Glöckner von Notre Dame

Das schönste Bild ist schon eines der schrecklichsten. Da liegt die „Hexe“, die zum Tode verurteilte Esmeralda, gottverlassen und verzweifelt auf dem Boden, nachdem man sie der ersten Stufe der körperlichen Folter ausgesetzt hat, die sie sofort dazu brachte, alles zu gestehen, was sie nie getan hat – und die Bühnennebel, die sich langsam in Richtung Publikum bewegen, werden von einem grellen Licht illuminiert, die die ganze Szene, das ganze Bild, zu einer äußerst wirkungsvollen Imagination machen.

Nein, Victor Hugos Notre Dame, im Deutschen als Der Glöckner von Notre Dame bekannt, ist kein „schöner“ Roman. Das Verhängnis, die furchtbare griechische Frau Ananke, die der Erzähler als Kategorie seiner pseudohistorischen Erzählung in den Roman einführte, ist ein menschengemachtes; man weiß ja nicht erst seit heute, was das für die Opfer der Geschichte und ihrer Macher bedeutet. In der Studiobühne Bayreuth erlebte nun eine Dramatisierung – es ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein – des Romans seine Premiere: nicht, was reizvoll, aber leider unmöglich ist, vor dem Westportal der Stadtkirche, sondern im Römischen Theater der Eremitage. Das markgräfliche Rokoko trifft auf die Hugosche Gotik; zu Beginn restaurieren ein paar weißgewandete Gestalten an der künstlichen Ruine herum, weil, wie die Regisseurin und Bearbeiterin Dorothea Kirschbaum schreibt, „an Notre Dame eigentlich immer gearbeitet wurde (und wird)“. Dabei bräuchte es diese am Ende des Stücks nicht mehr aufgenommene Erinnerung an die Vergangenheit und Gegenwart (der Bau wurde nach dem Feuer von 2019 erst jüngst wiedereröffnet) gar nicht, um die Geschichte verständlich zu machen. Man benötigt ja „nur“ einige Hauptrollenspieler, die die bekannten Protagonisten Esmeralda, den Glöckner, den Erzdiakon und den Inquisitor sowie den ungetreuen Liebhaber Phöbus mit Leben erfüllen.

Der Besucher resp. die Besucherin können da nicht meckern. Eigentlich könnte das Stück auch Esmeralda heißen, denn der Glöckner tritt erst im letzten Drittel markant, also aktiv in Erscheinung. Esmeralda ist Kira Himmelsbach, sie spielt die Zigeunerin so, dass man für ihr Schicksal interessiert wird. Der Glöckner ist Sebastian Geiger, der sich mit Inbrunst die Rolle des tauben, aber sensiblen Buckligen aneignete und alles dran gibt, um die quälend stockenden Reden an Esmeralda so echt und holzschnitthaft wie möglich zu gestalten. Ebenfalls holzschnitthaft, aber eine auch sprachlich imposante Gestalt: Klaus Meile spielt den Claude Frollo, den Pariser Erzdiakon, der, der Alchemie ergeben, auch in seiner Zuneigung zu Esmeralda radikal ist – radikal gebrochen. Dass einige der zahlreich im Publikum sitzenden jungen Leute bei seinem Liebesgeständnis gegenüber der dank seiner Taten eingekerkerten Esmeralda kichern, passt schon, denn die psychologisch interessanteste Figur des Stücks besitzt, betrachtet man sie rational, eine wahrlich irre Konsequenz. Frank Ambrosius bietet als Jacques Charmolue, einem Idealbild von Inquisitor, eine Figur ohne Ecken und Kanten, und Leonard Schmid ist ein Phöbus de Chateupers, der den schnöselig-glatten und bisweilen charmanten Dandy der Hochgotik quasi rollendeckend gibt, während Rebecca Brinkmann, als spät erkannte Mutter der Esmeralda, die nicht leicht zu spielende Rolle der Klausnerin (deshalb nicht leicht zu spielen, weil der Umschlag zwischen der Zigeunerhasserin und liebenden Mutter in zwei Sekunden vor sich gehen muss) deutlich herausspielt.

Dorothea Kirchbaum bietet in ihrer Inszenierung, die den Stoff nicht aktualisieren muss, um aktuell zu sein, gewiss kein Wohlfühltheater. Stattdessen setzt sie mit den erfahrensten Spielern auf sprachliche und gestische Genauigkeit, lange Gesprächsszenen (zentral: Frollos und Charmolues Diskurs über die Wissenschaft) und eine betörende Düsternis. Der Glöckner von Notre Dame ist keine Werbung für Notre Dame (gewiss, das ist er auch), sondern ein Nachtstück – ein Stück über die geistige und die reale Nacht, die im äußeren und inneren Kerker zu herrschen pflegt, in der sieben gespenstische Gestalten das Findelkind Quasimodo böse kommentieren, bevor das Treiben des unglücklich verliebten Kirchenmanns zum Vorschein kommt, er auf seinen Wunsch hin von seinem treuesten Diener getötet wird und Esmeralda schließlich stirbt. In der dritten Stunde des Abends sehen wir fast nur noch in ein schwach beleuchtetes, hinreißendes Dunkel. Was herausstrahlt, ist des Glöckners innere Schönheit – und das Opfer, erbarmungswürdig und gleichzeitig schön anzusehen im illuminierten Nebel. Und die Stimme des Erzählers, der wie Gottvater Hugo über Allem und Allen akustisch schwebt, ist mit Oliver Hepp perfekt besetzt.

Sehr langer Beifall für einen fordernden wie ernsthaften Abend über ein alt-neues Stück.

Frank Piontek

Foto (C) Thomas Eberlein / Studiobühne Bayreuth