Sittenstrolch, so nennen wir einen moralisch verwahrlosten Menschen. Da fängt das Problem schon an – denn was ist „Moral“? Im „Wozzek“ sagt es uns der Hauptmann: „Moral, das ist, wenn man moralisch ist“. Alles klar? Ein Sittenstrolche– das Wort kommt übrigens im Grimmschen Wörterbuch noch nicht vor – ist aber auch jemand, der durch die „Sitten strolcht“, also ein Mann, der durch das Übliche von „Moral“ und „Anstand“ herumvagabundiert, um sich seine eigenen Gedanken zu machen. So einer wie – aber was heißt hier schon „wie“? – Matthias Tretter.
Der Kabarettist, der bei seinem zweistündigen Auftritt im Saal des Bayreuther Becher-Bräu stimmlich etwas angeschlagen, aber sonst putzmunter war, arbeitet, die „Sitten“ auf das Hackbrett seines Verstandes und seiner Sottisen legend, nicht mit dem Beil, sondern dem chirurgischen Messer. Wie‘s so Brauch, kommt er vom Hölzchen zum Stöckchen, doch die Richtung ist immer klar: Wehrt der „Political Correctness“. Cancelt die „Cancel Culture“ ab, wo Ihr nur könnt. Man hat Tretter vorgeworfen – natürlich anonym, im Netz, in diversen Youtube-Kommentaren –, dass er, was natürlich unzulässig sei, seinen Spott auf die „Kleinen da unten“ richte, wenn er die Klimakleber aufs Korn nimmt. Merke: Ein wahrer Kabarettist kennt keine Rücksicht – der einzige Standpunkt, den er einnimmt, ist sein eigener und, ja, Kabarett kann auch mal ein kleines bisschen wehtun, auch wenn in Tretters Fall der Schmerz immer durch jene Komik sublimiert wird, die zwischen dem Politkabarett und dem Comedyauftritt vermittelt. Dass alles nicht so ernst gemeint und gleichzeitig alles ernst ist: man wird das Gefühl nicht los, dass die Fälle schwierig bleiben, aber das Lachen über den „besten Freund“ namens Ansgar, einem stark fränkelnden, 50 Jahre alten Philosophie-Dozenten mit Einsechszehntel-Stelle, der sich gerade anschickt, eine chinesische Pianistin zu heiraten, ist schon deshalb an der richtigen Stelle, weil sich der Sprachhumor á la Heidegger, Foucault und Lacan so in die Tiefe der Oberfläche eines intellektuellen (intellektuellen?) Slang begibt, dass es kracht. Im Sein des Wesens wird schließlich irgendwo die Wahrheit liegen – wenn nicht im Neuen China, dem kapitalistischsten Land der Erde, wogegen „die SPD immer noch auf der Suche nach der Arbeiterklasse ist, in der Hoffnung, sie nicht zu finden“. Parteipolitischeres wird man am Abend nicht zu hören bekommen, Grundsätzliches über Macht- und Industriepolitik wesentlich öfter.
So mäandert der sprachmächtige wie pointendichte Monolog von der Maskenfreiheit im ICE über die nicht mehr ganz taufrische Corona-Komik („Wissen Sie eigentlich, was auf den Intensivstationen los ist“ – der Satz muss festgehalten werden) zum Internationalen Frühschoppen der 70er und 80er Jahre, in dem „fünf Diskutanten aus sieben Ländern“ sich zusammenqualmten und tranken. Die ironische Nostalgie einer „behüteten“ Kindheit wird konterkariert von Anmerkungen zur Partnersuche im Internet (und allfälligen Notizen zu modernen Kommunikationsstörungen), zur Bundeswehr, zum Leitmotiv China, zur sog. Zeitenwende, zu „Mikro-Agressionen, nicht allein im Fall von LGBTQ. Frage: „Warum sind mehr Leute wehleidiger als ein Glasknochenkranker beim Pogo?“ Wo „Moralapostel“ heute eine „Mindestanforderung“ eines politisch korrekten Lebens ist („Bei den 30ern herrscht ein Furor wie in den 30er Jahren“), könnte einem das Lachen im Halse stecken bleiben, wäre Tretter nicht so witzig. Wo Tretter mit keinem Geringeren als Nietzsche den „Sklavenaufstand der Moral“ in den Shitstorms entdeckt, die minütlich durch Twitter gejagt werden, hat er alles Recht auf seiner Seite, politisch unkorrekt, witzig bis zur letzten Pointe, einseitig (aber was ist „einseitig“ in einer verwirrten Welt?) und letzten Endes sittlich zu argumentieren. Das bürgerliche Publikum quittiert‘s mit größter Heiterkeit – und das ist, wie ein Berliner Bürgermeister mal so schön sagte, gut so.