Vor allen Dingen erkläre ich meinem Leser, daß ich überzeugt bin, bei allem, was ich im Laufe meines Lebens Gutes oder Böses getan habe, für den guten oder bösen Ausgang selber verantwortlich zu sein. Es folgt daraus, daß ich an die Freiheit des Willens glaube.
Ich bin nicht nur Monotheist, sondern Christ, gefestigt durch Philosophie, die niemals etwas verdorben hat. Ich glaube an das Dasein eines immateriellen Gottes, der Schöpfer und Herr aller Lebensformen ist. Der Mensch ist frei; aber er ist nicht mehr frei, wenn er nicht an seine Freiheit glaubt. Je mehr Macht er dem Schicksal beimißt, desto mehr beraubt er sich selber jener Macht, die Gott ihm verlieh, indem er ihn mit Vernunft begabte. Die Vernunft ist ein Bruchteilchen der Göttlichkeit des Schöpfers. Aber wenn nun auch der Mensch frei ist, so dürfen wir doch nicht glauben, daß er das Recht habe, zu tun, was er will. Denn er wird Sklave, so oft er sich von einer Leidenschaft zum Handeln fortreißen läßt. Meine Abwege zeigen den denkenden Lesern die rechten Wege; sie können auch aus meinen Verirrungen die große Kunst lernen, wie man sich über dem Abgrund in der Schwebe erhält. Darum hoffe ich, lieber Leser, du wirst meiner Geschichte nicht den Charakter unverschämter Überhebung beimessen, sondern im Gegenteil darin den Ton finden, der einer Generalbeichte geziemt.
Du wirst lachen, wenn du siehst, wie ich mir oftmals kein Gewissen daraus gemacht habe, Toren, Schelme und Dummköpfe zu hintergehen, wenn ich in Not war. Wenn ich Frauen betrogen habe, so war das Hintergangenwerden gegenseitig. So etwas zählt nicht; denn wenn die Liebe mit ins Spiel kommt, sind gewöhnlich beide Teile angeführt. Ganz etwas anderes ist es mit den Dummköpfen. Man rächt die Klugheit, wenn man einen Dummkopf betrügt, und der Sieg lohnt sich der Mühe; denn der Dummkopf ist gepanzert, und man weiß oft nicht, an welcher Stelle man ihm beikommen soll. Mit einem Wort: einen Dummkopf zu betrügen, ist wohl eines klugen Mannes würdig.
Jetzt, im Jahre 1797, da ich zweiundsiebzig Iahre alt bin, da ich sagen kann: vixi*, jetzt könnte ich mir schwerlich eine angenehmere Unterhaltung verschaffen, als mich mit meinen eigenen Angelegenheiten zu unterhalten und der guten Gesellschaft, die mich anhört, die mich stets freundschaftlich behandelt hat und in deren Mitte ich stets verkehrt habe, einen würdigen Anlaß zum Lachen zu liefern.
Der Tod ist ein Ungeheuer, das den aufmerksamen Zuschauer aus dem großen Welttheater hinausjagt, bevor das Stück, das ihn unendlich interessiert, zu Ende gespielt ist. Da ich also aus eigenem Augenschein die vollkommene Gewißheit der Unsterblichkeit erst dann erlangen kann, wenn ich nicht mehr lebe, so wird man mir verzeihen, daß ich es nicht sehr eilig habe, zur Erkenntnis dieser Wahrheit zu gelangen; denn eine Erkenntnis, die das Leben kostet, scheint mir zu teuer bezahlt zu sein.
Ich habe nach und nach alle Temperamente gehabt: in meiner Kindheit war ich phlegmatisch, in meiner Jugend sanguinisch; später wurde ich cholerisch und endlich melancholisch, und das werde ich wahrscheinlich bleiben. Indem ich meine Nahrung meiner Leibesbeschaffenheit anpaßte, habe ich mich stets einer guten Gesundheit erfreut. Schon frühzeitig lernte ich, daß jede Schädigung der Gesundheit stets von einem Übermaß in der Ernährung oder in der Enthaltsamkeit herrührt. Darum habe ich niemals einen anderen Arzt gehabt als mich selber.
Giacomo Casanova wurde 1725 in Venedig geboren. Er nannte sich Chevalier de Seingalt und studierte Theologie und Jura. 1755 wurde er in Venedig wegen Gottlosigkeit eingekerkert. 1756 gelang ihm die Flucht aus den Bleikammern des Dogenpalastes. 1757 Lotteriedirektor in Paris. Hielt sich an den Höfen Friedrichs des Großen, Josephs II. und Katharinas der Großen auf. Ab 1785 Bibliothekar des Grafen Waldstein in Dux (Böhmen). Dort starb Casanova. Seine umfangreichen Memoiren sind von hohem kulturhistorischem Wert. Berühmt wurde er durch die Beschreibung seiner Flucht aus den Bleikammern. Aufsehen erregten jedoch in erster Linie seine beschriebenen erotischen Abenteuer. * Ich habe gelebt