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Freitag, 19. April 24

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Familiensaga und Seelenbild

Bayreuther FestspieleFamiliensaga und Seelenbild

Ein Rückblick auf die Bayreuther Festspiele 2022

Das erste Buh kam noch im Ausklang des Schlussakkords. Das Erregungspotential des Bayreuther Publikums ist groß, die Erregungsschwelle umso niedriger. Dass viele Besucher wenig Erfahrungen mit moderner Regie, Benimmregeln und Wagner-Deutungen haben, die man zwischen Hamburg und München ähnlich sehen kann, und die ein wenig Einfühlungs- und Abstraktionsvermögen, ein wenig Toleranz in Sachen Textabschliff, auch Werkkenntnisse verlangen: dies war die vielleicht überraschendste Entdeckung dieses Festspielsommers.

Ein neuer Ring kam auf die Bühne, der das Publikum hörbar spaltete. Valentin Schwarz stellte mit seiner Les-Art eine Familiengeschichte auf die Bühne, aber vielleicht ist es gar nicht so wichtig, immerzu das Wort des Regisseurs, dass es sich um  Deutung im Geist einer Netflix-Serie handele, zu zitieren. Schwarz hat einfach das gemacht, was jeder Ring-Regisseur tun sollte: er hat den Text sorgfältig gelesen, die Musik exakt wahrgenommen und begriffen – und sich eben doch nicht auf überkommene Traditionen verlassen. Er hat die Geschichte, so der Dramaturg Konrad Kuhn, weitergedacht, weil sie bereits von Wagner so spannungsreich und gelind widersprüchlich angelegt worden war. Er stürzte sich wie Siegfried in das Ring-Getümmel, um eine Saga vorzulegen, die manchen alteingesessenen Bayreuthianer verschreckte – dass sich im Publikum, nachdem die Buhrufer des 1. Zyklus wieder abgereist waren, schon beim 2. Zyklus nicht wenige Freunde der Neudeutung fanden, darf nicht verschwiegen werden. Natürlich: ein Ring ohne Speer, Schwert und „eigentlichen“ Ring ist selbst für Modernisten unmöglich; lieber nehmen sie einen Wotan im Anzug, aber mit Speer, als eine Walküre in Kauf, die zu ihrer Erweckung nicht in der Horizontale liegt, sondern vertikal auf die Bühne kommt (im Übrigen: ein szenisch-optischer Höhepunkt des gesamten neuen Ring). Schwarz nahm sich „nur“ die Freiheit, die Regieanweisungen und Texte nicht wörtlich zu nehmen, sondern recht eigentlich zu deuten, also für uns zu übersetzen und in Hegelschem Sinn aufzuheben, also zu bewahren und gleichzeitig durch Inszenierungslogischeres zu subsituieren. Das gab, natürlich, Abschliffe am Text, aber noch lange kein absurdes Theater. Es gab nur dem Zuschauer manch Nuss zu knacken, aber keinen Unsinn zum Kosten vor. Es sind nicht wenige Werk-Widersprüche, -Zweideutigkeiten und offene Fragen, die die Regie dazu legitimierten, die Geschichte „weiterzudenken“, wobei die Betonung sowohl auf „weiter“ wie auf „denken“ liegt. Das muss nicht jedem gefallen, aber man hat auch in Bayreuth schon wesentlich Dilettantischeres, Langweiligeres und Trivialeres gesehen als den neuen Ring. Genau genommen zieht er seinen Reiz gerade aus der dezidierten Deutung: wo andere Regisseure versuchen, Wagners Regieanweisungen aus dem Geist eines historistisch-fantastischen Theaters des mittleren 19. Jahrhunderts mit der Moderne zu versöhnen und oft dran scheitern, behauptete Schwarz zusammen mit seinem Dramaturgen und dem Bühnenbildner erst gar nicht, dass es möglich wäre, die Bühnenvorstellungen Richard Wagners in ein Heute zu bringen. Stattdessen setzte er auf radikale Konkretisierungen: der Ring ist weder Ring noch Symbol, sondern ein Kind, ein Erbe der Welt der Familie. Die Idee ist bestechend, und sie ist nicht falsch: wo die Menschen nach Macht gieren, kann ein Erbe zum Hoffnungsträger für die Verlängerung von eigenen Allmachtsvorstellungen werden. Der Ring 2022 beginnt mit einem Brüderbild: eine Animation, in dem man zunächst zwei Nabelschnüre, dann zwei groß gewordene Föten sieht. Die Gewalt bricht schon im Mutterleib aus, der eine schlägt dem anderen ins Auge, bis es Blut spritzt. Brüder gibt es ja im Familiendrama des Ring genug; auch Alberich und Wotan sind als sog. Nacht- und Licht-Alben verfeindete Brüder. Der Ring 2022 endet auch mit einem Video: zweier Föten an ihren Nabelschnüren, doch diesmal umarmten sie sich zärtlich, ohne aufeinander einzuschlagen. Alles gut, sie könnten sich auch im Leben ringkampflos liebhaben, es könnte glücken. Nein, nicht Valentin Schwarz und sein Team sind am Ring gescheitert. Gescheitert sind alle die, die sich das Vergnügen nahmen, dem 14 Stunden überspannenden großen Bogen und den vielen Einzelheiten einer durchwegs spannenden, Herz und Hirn öffnenden Interpretation und weiteren, scheinbare und offensichtliche Widersprüche nicht scheuenden, gut zwischen Humor und Pathos changierenden, konsequenten, Mythos und Moderne eigentümlich versöhnenden und durchwegs musikalischen Les-Art des unauschöpflichen Werks zu folgen. Was musikalisch haften blieb, waren einzelne Wunderbarkeiten: Lise Davidsen als Sieglinde, Klaus Florian Vogt als Siegmund, Andreas Schagers junger Siegfried, auch Christa Mayer als erstrangige Fricka und Waltraute, auch Elisabeth Teiges Freia und ihre ideelle Halb-Schwester Gutrune, auch Michael Kupfer-Radeckys Gunther. Der Sänger sprang auch während der Premiere für den bühnenverunfallten Thomas Konieczny als Wotan im dritten Walküre-Akt ein: Respekt – auch für den Götterdämmerungs-Siegfried Clay Hilley, der mit seinem wunderbar gesungenen Part als extrem kurzfristiger Einspringer die Premiere der Götterdämmerung rettete. Chapeau schließlich für Koniecny, der zwar keinen vokal idealen, aber szenisch äußert präsenten Walküre-Wotan und Wanderer gab. Das Orchester wird, man darf da sicher sein, im nächsten Jahr einen reineren Ring spielen, als es ihm in diesem Jahr unter dem Einspringer Cornelius Meister möglich war – so wie die Inszenierung in einigen Details und Bildern vermutlich noch geändert wird, um nur noch besser zu werden, als sie eh schon ist.

Im Vergleich zum neuen, umtosten Ring wirkte der neue Tristan geradezu wie ein Beruhigungsmittel. Zumindest orchestral konnte der Hörer gelegentlich den Eindruck haben, doch harmonierte auch hier der sound mit der Szene. Roland Schwab hat, zusammen mit seinem kongenialen Ausstatter Piero Vinciguerra, einen fast buddhistischen Tristan auf die Bühne gestellt, in dem es weniger um irdische Leiden-Schaften als um die Sinnsuche geht. Das Paar befindet sich deutlich auf einem buddhistischen Weg. Die optische Schönheit des Einheitsbühnenbilds, zeigend eine Art Raumstation der Seele, passt zwingend zu einer „Handlung“, in der selbst der „Verräter“ Melot seine menschliche Würde behält. Oben ein weißblauer Himmel und Myriaden von Sternen, unten eine LED-Fläche, ein Spiegel von Tristans und Isoldes Innerem. Besonders gefeiert wurde in diesem Jahr, nicht grundlos, Georg Zeppenfeld, der schon einen prägnanten und nicht unsympathischen Hunding sang, als Marke, auch Stephen Gould und Catherine Foster, bei der es ausnahmsweise nicht schadete, dass man kein Wort verstand. Tristan ist eine symphonische Oper; die Inszenierung, dirigiert von Markus Poschner, bot ein sinnliches Vergnügen ohne Aufregungsfaktor, aber mit einem gehörigen Maß an Zuneigung zu den Figuren. Wie schade also, dass sie, nach nur vier Aufführungen, schon 2023 abgesetzt werden soll. Was für eine Ressourcen-Veschwendung! Und was für ein Nachteil für das Publikum, das diese Produktion fast vorbehaltlos angenommen hat. Im Gegensatz zu den ersten vorlauten Reaktionen auf den neuen Ring, die man, in Sicht auf die nächsten 5 Jahre Laufzeit, nicht überbewerten sollte.

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