François Couperin war als Hofkomponist Ludwig XIV. eine der bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit und die einflussreichste musikalische Größe zwischen Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau, nicht umsonst wurde er von seinen Zeitgenossen auch „Le Grand“ genannt. 1714 komponierte er seine Leçons de Ténèbres für die Pariser Abbaye royale de Longchamp. Die Gattung der Tenebrae-Lamentationen hatte in Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts reiche Tradition, vor allem in der Karwoche, in der sie zwischen Gründonnerstag und Karsamstag in die Liturgie integriert wurde. Auf Grundlage der biblischen Klagelieder des Jeremias berichten sie von der Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, in der Woche vor Oster mit dem Leiden und Sterben Jesu Christi in Beziehung gesetzt.
Couperins drei Leçons de Ténèbres waren für die Nachtwache am Gründonnerstag gedacht. Ob er plante, den Zyklus auf weitere sechs Kompositionen für den Karfreitag und den Karsamstag zu komponieren, ist bis heute nicht bekannt. Jede der drei lateinischen Leçons lässt er jeweils mit einem Buchstaben aus dem hebräischen Alphabet beginnen, den er in ausdrucksstarken klagenden Melismen ausgestaltet. In den rezitativischen und ariosen Passagen changiert er zwischen italienischem und französischem Stil. Vor allem die zweistimmige letzte Leçon zählt mit ihrer Ornamentik, ihren Vokalisen und schmerzlichen Dissonanzen zu einem der unbestrittenen Höhepunkte der barocken Vokalmusik, die von den Sopranistinnen Johanna Rosa Falkinger und Marie Theoleyre sowie von dem Organisten Loris Barrucand und dem Cellisten François Gallon zu neuem Leben erweckt wird.