Studiobühne Bayreuth spielt Canettis Die Befristeten
Er hasste, wie kein anderer Dichter, den Tod – und er schrieb, das war in den 1950er Jahren, ein Stück über seine Lieblings-Obsession. Konsequent also, dass der spätere Nobelpreisträger und Denker über das Phänomen von „Masse und Macht“, der grandiose Autobiograph und Chronist, der Reiseschriftsteller (Die Kamele von Marrakesch) und Romancier (Die Blendung) in seinem Schauspiel Die Befristeten dem Tod eine geradezu zwielichtige Rolle gab: ausgehend von der simplen Frage: Wie wäre es, wenn jeder Mensch mit seinem Geburtstag zugleich sein ihm zugemessenes Lebensalter mitgeteilt bekäme? Was würde mit ihm und den Anderen geschehen, wenn er wüsste, dass ihm, als Herr 88 oder Frau 30, sein letztes Stündchen schlagen würde? Die Frage ist einfach (und wurde und wird täglich gestellt), die Diskussionsmöglichkeiten aber sind endlos. Mit Die Befristeten schuf der Jude Elias Canetti, sicher nicht ganz zufällig nach der NS-Diktatur, ein Parabelstück, das man nicht anders denn als zeitlos bezeichnen kann. In der Studiobühne Bayreuth hat man nun, unter der Regie Marieluise Müllers, dem Stück eine Form gegeben, in der ausnahmslos alle Schauspielerinnen und Akteure glänzen: meist in verschiedensten Rollen. Denn Canetti schuf mit den Befristeten kein trockenes Thesenstück, sondern ein so amüsantes wie bewegendes, so bizarres wie ernsthaftes Drama über eine riesige Täuschung. Man könnte es auch als Hörspiel vollgültig realisieren; meist stehen „nur“ zwei miteinander sprechende Personen auf der Bühne – aber es ist schlichtweg betörend, den Spielern beim Theater-Spiel zuzuschauen. Die Diktatur des Todes, die sich – letzte Antworten gibt das Stück glücklicherweise nicht – als fauler Zauber zu entpuppen scheint, wird geradezu choreographisch aufgelöst. Wir erhalten Einblicke in die Mechanismen angepasster wie schmerzhafter Verhaltensmuster, konkret: Wenn sich ein Mann und eine Frau im Schatten des „Augenblicks“ begegnen, werden wir Zeugen eines Totentanzes, von dem zunächst nur die Frau etwas weiß. Michaela Beuchel und Pierre Soldatenko machen auch das kraftvoll und nachvollziehbar, sie stehen neben Tina Leistner und Frank Ammon, Sylvia Lauterbach neben Johannes Fleckenstein, die mit gleicher Intensität die unterschiedlichsten, jungen, mittelalten und alten, aktiven und lethargischen Charaktere lustvoll wie konzentriert auf die Bühne bringen. Mathias Leitloff und Jürgen Fikentscher sind das einzige Paar, das neben der kafkaesken Figur des von Frank Müller gemimten und gesprochenen Kapselans von der ersten bis zur letzten Szene für einen Handlungsfaden einsteht. Fünfzig, ein skeptischer Investigativreporter, zweifelt am Sinn der Todesverheißungen und der Allmacht des zunächst scheinbar allmächtigen Verwalters der Kapseln, die jedem Menschen mit seiner Geburt mitgegeben werden, und die nur unter schwerer Strafe entfernt werden dürfen. Am Ende wird eine Revolution angefacht, die genauso radikal und sinnlos ist wie das, was überwunden werden sollte, während der Freund, der seine vor 30 Jahren zum letzten Mal gesehene Schwester (sie heißt „12“ und verschwand unter ungeklärten Umständen) suchen will, angesichts der ideologischen Neuorientierung in der Interpretation Marieluise Müllers und Jürgen Fikentschers nur den Verstand verlieren kann.
Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Gewiss und Gut so. Schon in der Pause der Premierenvorstellung entstanden Gespräche über die so einfache wie komplexe Eingangsfrage, weil an diesem Abend, bis zur Musik (bei den Auftritten des Kapselans erklingen die ersten Takte von Strauss’ Also sprach Zarathustra, ansonsten herrlich abgehackte Variationen des Walkürenritts) und zum von Ruth Pulgram entworfenen Bühnenbild, alles stimmt. Wir schauen in zwei große Spiegelsegmente – und sehen zwischendurch uns selbst. Der große Rest ist eine Spiegelung durch die Spieler – der Beifall war denn auch, selbst für die Verhältnisse des Publikums der Studiobühnen-Premieren, äußerst stark. Wie gesagt: An diesem komödiantisch durchgearbeiteten und inhaltlich faszinierenden Abend über ein unauslotbares Thema stimmt wirklich alles.
Frank Piontek