Als die Azione teatrale das letzte Mal auf der Bühne des Markgräflichen Opernhauses erschien, trat die Wollust in Grün auf. Nun können wir sie und ihre Kollegen und Kolleginnen wiederum sehen – allerdings nicht in der symbolischen Farbe, sondern in einem jener prachtvollen Kostüme, wie sie wohl schon bei der Uraufführung des Werks so ähnlich zu erleben waren: also in einer ausgesprochen und unverstellt historisierenden Version.
„L‘Huomo“, die einzige Oper neben dem von der Initiatorin des weltberühmten Opernhauses komponierten „Argenore“: er ist neben dem Trauerspiel in Form einer Opera seria das einzige Musiktheaterstück, das noch nach ihrer ersten Aufführung bzw. Schöpfung aufgrund der Quellenlage als „Bayreuther Oper“ gespielt werden kann. Nun kam er, nachdem 1958 eine deutsche Fassung und 2009 eine originalsprachige Version realisiert wurde, zum dritten Mal nach 1754 ins Haus; unmittelbarer Anlass war die kürzliche Eröffnung des Opernhausmuseums, in dem die Theaterwelt der Bayreuther Markgrafen zumal der Epoche Markgräfin Wilhelmines und ihres Mannes, des Markgrafen Friedrich, in aller Fülle ausgebreitet wird. Abgesehen von einem modernen visuellen Element, das die Ästhetik des Ganzen nicht stört, sondern eher bestätigt, könnte die Neuinszenierung, die zunächst bei den Musikfestspielen Potsdam-Sanssouci herauskam, durchaus als Fortsetzung einer Führung durchs Museum betrachtet werden – denn der Regisseur Nils Niemann hat zusammen mit dem Bühnen- und Kostümgestalter Johannes Ritter und dem Ensemble 1700 unter der Leitung Dorothee Oberlingers eine Fassung erstellt, die Mitte des 18. Jahrhunderts die Zuschauer und -hörer zweifellos erfreut hätte, weil das Timing, das Design, der Klang und die Grundidee eines quasi rekonstruierenden Spektakels ganz und gar ins Zeitalter einer theatralisierten „Aufklärung“ zu passen scheinen. Nur in der allerletzten Schlusskurve erlaubt sich die Regie einen kleinen Einfall. Er bricht die von Wilhelmine von Bayreuth entworfene Vision einer nichts als harmonischen, daher auch utopischen Vereinigung von „Vernunft“ und „Liebe“, indem dann doch noch die „bösen“ Mächte von Volusia = „Wollust“ und Incosia = „Unbeständigkeit“ ins Idyll hineinschauen und sich die Sonne, das traditionelle Symbol der Aufklärung, Vernunft, Weisheit und allgemeinen Richtigkeit, schlagartig verfinstert.
Der Rest ist ein spätbarockes Theater im Geist der Schönheit selbst dort, wo die Wilden, also die widernatürlich unvernünftigen Geister und Kräfte sich regen. Ruth Müller-Lindenberg hat 2009 in ihrem wegweisenden Buch über die Hofoper Wilhelmines von Bayreuth behauptet, dass „L‘Huomo“ ein sperriges Stück sei: „Wer den Inhalt nicht nur nachzuerzählen, sondern zu begreifen sucht, stolpert schnell über die unterschiedlichen Abstraktions- und Hierarchie-Ebenen“. Doch bliebe, wenn man dem Stück alle philosophischen und allegorischen Dimensionen nehme, im Grunde eine sehr einfache Intrige zurück. Da kämpfen die „bösen“ Geister schlicht und einfach um die Seelen der „Guten“, die am Ende, nachdem der Mann schon fast in den Fängen der schönen Anderen gelandet ist, dank Eingriffs eines Guten Geistes erkennen, das es das Beste ist, einander treu zu sein und sich zu vereinigen, weil sie kraft Namen (Animia und Anemone) eh schon als zwei Seiten einer Seele zusammengehören. Auf dieser sehr schlichten Ebene offenbart sich recht eigentlich die Intention der Schöpferin des Szenariums. Hätte Wilhelmine von Bayreuth sich derart ausdrücklich über den ungewöhnlich untreuen Mann geäußert, wäre sie nicht persönlich getroffen gewesen über die Zuneigung IHRES Mannes zur auserwählten Mätresse, der Frau von Marwitz? Was auffällt und fast modern anmutet, ist schließlich die Tatsache, dass sich hier der Homme, nicht die Frau als Vertreter eines extrem schwachen Geschlechts erweist. Vielleicht ist ja dies und nur dies Wilhelmines stärkster Beitrag zur Geschlechterdebatte und Aufklärungsphilosophie. Der Rest ist Schein, Arie, Rezitativ und Zeremoniell.
Nein, dramatisch ist der „L‘Huomo“, bei dem sich die Zuschauerin überlegen kann, ob es sich um ein Stück über den Mann oder den Menschen an sich handelt, in keinem Augenblick. Die Inszenierung reagiert auf die verordnete Allegorie nicht mit irgendeiner Modernisierung, sondern mit der konsequenten Durchführung einer rekonstruierten, konventionellen und gleichzeitig künstlich expressiven Gestik und Mimik, auch mit einer äußeren Schönheit á la mode des mittleren 18. Jahrhunderts, die den Figuren die Anmutung animierter Porzellanfiguren verleiht. Es herrscht hier ein gepflegter ennui, wobei die Betonung auf „gepflegt“ liegt; die Aufführung ist in diesem Sinn quasi „werktreu“, falls der Terminus der „Werktreue“ für Stücke des 18. Jahrhunderts überhaupt in Anschlag gebracht werden kann. „L‘Homme“ ist zwar kein Pasticcio, integriert aber so viele Fremdanteile aus Werken Hasses, Galuppis und Wilhelmines von Bayreuth, dass der Schritt zur musikalischen Pastete nicht mehr weit ist. Dem heutigen Hörer, der nicht zwischen den Tonsprachen all der Meister unterscheiden kann, dürfte eh alles gleich klingen – gleich geschmeidig, gleich voluminös, gleich lyrisch, gleich zart und heftig. Das Ensemble 1700 erweist sich als idealer Partner eines Vokalensembles, das der Partitur zu vollem Recht verhilft – und die beiden Kavatinen, die die Markgräfin zum Wendepunkt der Handlung (auch das war kein Zufall) beisteuerte, klingen balsamisch ins Ohr. „Sie fließen“, sagte die Dirigentin, „im allerhöchsten Register des Buon Genio über dem Streichersatz wie gleißendes Licht“. Richtig – aber man bzw. frau muss sie auch so spielen, instrumentieren, ihnen erst den Klang geben, der sich aus den Noten der überlieferten Partitur nicht von selbst ergibt. Das Ensemble 1700 verfügt über eine reiche Farbpalette, die zusammen mit den Sängern die jeweils ungekürzt gebrachten Arien in ihrer teil monumentalen Ausdehnung in jedem Moment zu legitimieren vermögen. Bernasconi und seine Kollegen und die dilettierende Markgräfin haben das Ihre dazu beigetragen, ein musikalisch hinreißendes Stück zu komponieren. Animia, die sich, natürlich „vernünftig“, in den fast gleich, im Stil des theatralisch oberadelig gekleideten Anemone verliebt und dann so unvernünftig ist, die Untreue des erstaunlich schwachen Männchens zu beklagen (heute würde sie ihm spätestens nach dem zweiten Fehltritt den verdienten Laufpass geben), Animia, die gute Seele, ist Maria Ladurner; sie erhält den meisten Beifall, weil sie mit Leidenschaft und Stimmschönheit den Part gestaltet. Ihr untreuer Geliebter ist Philipp Mathmann, der Sopran vermag es, die verschiedenen Wärmegrade seiner „emotionalen“ Entwicklung nicht allein in der formalisierten Gestik, auch in der Stimmgestaltung zu realisieren. Wunderbar auch der Buon Genio der Francesca Benitez, die am Ende ihrer ersten Pracht-Arie zu verdihaften Formen aufläuft. Alice Lackner und Johanna Rosa Falkinger machen als Wollust und Unbeständigkeit die beiden äußerst reizenden Gegengestalten – unmöglich, ihrem gestischen und vokalen Becircen nicht zu erliegen, was daran erinnern mag, dass noch Wagner das „Laster“ in Gestalt der Blumen so reizvoll ausmalte, dass sich die unauflösbaren Widersprüche eines moralisierenden Dramas von selbst ergaben. Simon Bode ist der gute Amor, der, so will‘s das Textbuch, so vernünftig wie unvernünftig agiert, und Florian Götz singt schließlich den Cattivo Genio: als Wiederkehr eines „orientalisch“ sein sollenden Vitzlipuzuli, dem die Dame Guter Geist an „fantastischem“ Outfit nur wenig nachsteht. Ein Schelm, wer bei diesen Kostümen an Rameaus und Cahusacs „Zoroasre“ denkt, mit dessen szenisch-musikalischer Struktur der „Homme“ einiges verbindet (genaueres ist bei Thomas Betzwieser im 2016 erschienenen Bayreuther Symposionsband zu Wilhelmines von Bayreuth Opernkonzeptionen zu lesen).
Was bleibt, ist das sich teilende Hirn, das sich in den Videoprojektionen dem Zuschauer zeigt. Christoph Brech hat nicht allein das zwischen Symbolismus und Realismus vermittelnde Bild beigesteuert, das auf authentischen Gehirnbildern und historischen Illustrationen basiert. Das ist gefällig, dekorativ, nicht falsch und ergänzend, doch wichtiger ist die Tatsache, dass die projizierten Bühnenprospekte, die den analogen, nach barockem Zuschnitt gebastelten Bühnenbildelementen den Hintergrund geben, die beiden original für „L‘Homme“ geschaffenen Entwürfe Carlo Gallo Bibienas abbilden: den spektakulären, schon zum Abstrakten neigenden Palmenwald und eine leicht fantastische Landschaft. Es ist, als säße man im Museum – es passt zur thematisch etwas faden Tugendallegorie, die für wirklich aufgeklärte Geister 1754 schon längst nicht mehr state of the art of philosophy war: Experimente am offenen Herzen sahen, trotz Abkehr von der Idee, dass die Frau das schwache Wesen per se ist, schon damals differenzierter aus.
Was bleibt, ist die Hauptsache, um derentwillen ein „Huomo“ heute noch gespielt werden kann – und vielleicht ist es ja gerade die extreme wie bezaubernde Künstlichkeit, die dem Werk eine Wahrhaftigkeit zu verleihen vermag, die es zumindest zu einem hinreißenden Museumsstück macht: so wie an diesem musikalisch und szenisch amüsanten Abend.