Die Studiobühne spielt Das tapfere Schneiderlein in der Eremitage
„Wann kommt denn der Gestiefelte Kater“?, fragt das kleine Kind in der ersten Reihe. Nein, der Kater wird nicht kommen, es bleibt beim Schneiderlein, auch wenn Ähnlichkeiten zwischen den beiden Figuren bestehen mögen. Der eine ist ja wie der andere ein Trickster, wie die Märchenforschung das nennt, also eine Figur, die die bestehende Ordnung durcheinanderbringt.

(c) Studiobühne Bayreuth
Die bestehende Ordnung, ach ja. Wer sich die heutige Welt anschaut, muss kein Wissenschaftler sein, um draufzukommen, dass sie jede Menge Trickster benötigt. Das Schneiderlein, das nun über die Studiobühne des Römischen Theaters der Bayreuther Eremitage läuft, nützt all seine Kraft und seinen Witz, um den Streit und die Ungerechtigkeiten, die ihm begegnen, aus der Welt zu schaffen. Ulrike Zeitz hat das bekannte Märchen „sehr frei nach den Gebrüdern Grimm“ bearbeitet, sie nennt es nun: Eine Mut-mach-Geschichte. Sie hat den alten Text durchgepflügt, um ihre neuen Motive mit dem alten Personal auszustatten. Das erscheint sehr verwandelt, aber es ist alles da: der König und Königs Tochter wie (zumindest) ein Riese, das Wildschwein und das Einhorn. Man kann es sehen, auch wenn es unsichtbar scheint; es ist dies die poetischste Szene der Märchenstunde für Jung und Alt. Dazu genügen „nur“ zwei Schleier, eindrückliches Theater kann so einfach sein.
Die menschengroßen Fliegen schwirren schon vor Beginn des Stücks über die Bühne; wie das Schneiderlein sie unabsichtlich killt, ist schon amüsant. Man weiß: Wer heute eine Fliege tötet, greift fatalerweise ins Ökosystem ein. „Ich kriminelles Untier!“, ruft das Schneiderlein, das mit Stefan Schneller einen höchst wendigen Interpreten angeschneidert (pardon, aber der naheliegende Wortwitz muss einfach sein) bekam. Was tun, um dem Gefühl, etwas Böses getan zu haben, entgegenzuwirken? Gutes tun. So schickt die Autorin und Regisseurin Ulrike Zeitz den Helden auf eine Reise ins bekannte Land der Gegenwart, der dort, auf durchaus menschenfreundliche Weise, mit den Verhältnissen, wie Brecht gesagt hätte, auf seine tricksterhafte Art und Weise aufräumt. Das tapfere Schneiderlein kommt als antikapitalistische Parabel im Gewand einer ökologischen Realsatire daher. Das wirkt manchmal etwas plakativ – so dass man auch Plakate zu sehen bekommt – , doch wer heute, in Zeiten des Klimawandels, der auch in Bayern radikalen Versiegelung von Freiflächen und den Verkaufspraktiken des bekannten Internet-Verkaufskonzerns, ein Jugendtheater „für die ganze Familie“ machen will, kommt um eindeutige Setzungen nicht herum. Da es sich aber immer noch um ein Märchen handelt, in dem sich am Ende nicht nur das nonkonformistische „Wildschwein“ namens Johann (im Übrigen ein netter junger Mann) und Königs Tochter in den Armen liegen, erweist sich die Parabel schlussendlich als humane Utopie, die zwischen „Rettet den Feldhamster“ und der Aufforderung changiert, einfach mehr miteinander statt übereinander zu reden.
Großer Applaus für eine sehr vitale, schauspielerisch bewegte Produktion, in der Birgit Franz auf der von Ingrid Wachsmann entworfenen und geradezu experimentellen wie dramaturgisch bedingten Installationsbühne (links ein Warenlager, rechts der latent anarchistische Wildschwein-Käfig, hinten Königs Sitz) als präpotente Anna Zorn (!) den aufreizend goldgewandeten und hexenhaft schwarzbehaarten Kapitalismus figuriert, bevor sie, das ist dann mehr ein Witz für die Großen, zu Anna Lyse wird – Linda Haferbrei (Ute Schlüchtermann) wird, auch das ist grausam witzig, als „Grütze“ denunziert und vom Schneiderlein listig befreit. Der König ist nur ein Bürgermeister und Schuldirektor (Michael Munzel), der am Tropf der Wirtschaft hängt, während Frau Geier und Herr Dinkel, also Konzern und Bürgerbewegung, mit Melanie Frick und Robert Reihl ein typisches Gegensatzpaar bilden. Nicht zuletzt kommen Königs Tochter Juni und Johann, genannt Wildschwein alias Olha Hordyshevska und Nathan Herzfeld zusammen: sein Unangepasstsein wird am Ende als einzig mögliche gute Tat rehabilitiert, und ihre durchs Mobbing verursachte Sprachstörung wird vom klugen Schneiderlein und einem zauberhaften Einhorn geheilt.
Also alles gut? Zumindest im modernen Märchen – dass nicht allein Kinder sie brauchen, weiß man ja inzwischen. Langer Beifall also für eine glänzende Ensembleleistung.
Frank Piontek