„La Traviata“ am Staatstheater Nürnberg
Die Oper beginnt vor dem Fest. Allein da sehen wir schon das Unglück nahen. Mujeres al borde de un ataque de nervios – Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs – das Plakat zum Film hängt unübersehbar an der Wand. Die junge Frau kommt in den Raum, beginnt zu sprechen, macht sich fertig für den Abend, schminkt sich, plappert in die Kamera, empfängt ihre lustigen Freundinnen und setzt sich eine weiße Perücke auf. Dann beginnt das Unglück, die Musik sagt schon Alles.
Das Vorspiel zur Traviata ist ja schon ein Zitat: Letzter Lebensakt, letztes Bild, Violetta stirbt und erinnert sich noch einmal an die „Freude(n)“ ihrer kurzen Jugend- und Lebenszeit. Dann beginnt das Fest, aber wir wissen aus dem Opernführer, dass es nicht gut ausgehen wird.
Was in der Traviata nicht gut ist und wieso sie stirbt: Die Gründe haben sich im Verlauf der Geschichte verflüchtigt; was übrig blieb, ist das geniale Melodramma Giuseppe Verdis und Francesco Maria Piaves. Natürlich kann man es gleichsam vom Blatt inszenieren, das klappt ja immer, aber die Frage, was eine „vom Wege Abgekommene“, konkret: eine von der sog. gutbürgerlichen Gesellschaft heute stigmatisierte und beschädigte Frau ist oder sein könnte, muss erlaubt sein. Ilaria Lanzino, Spezialistin für beschädigte Frauen auf der Opernbühne, ist eine Meisterin darin, Handlungen neuzudeuten, um die Motive ins Heute zu bringen.
Im Fall der Traviata parallelisierte sie die gesellschaftliche Hinrichtung Violettas mit dem digitalen Victim-Blaming, wie es heute üblich ist: Sie wird zum Opfer, indem sie am Rande einer Party von einer Männerhorde vergewaltigt wird; das Video dieser Vergewaltigung geht sofort ins Netz, wird am Abend immer wieder angespielt und zeitigt die abscheulichsten, weil zustimmenden Kommentare. Das alles wird während des Vorspiels gezeigt, bevor die psychisch schwer touchierte Frau im Fest des ersten Akts, nach einem Jahr, auf Alfredo trifft, der, da er, anders als der Verlobte der Tochter Germonts, nichts von Violettas viral gestellter Vergewaltigung weiß, unbefangen auf sie zugeht. Es kommt, wie’s kommen muss: Die Beiden driften, nach einer Intervention Germonts, auseinander, am Ende wird sie an den Depressionen und Selbstverletzungen sterben, die ihr die Öffentlichkeit beibrachte. Das Finale zeigt sie bereits sterbend, sie liegt, im Koma, in einem Krankenbett und beobachtet sich selbst zugleich in ihren letzten Minuten. Alfredo tritt auf, er spricht mit der schon fast Toten, die alles, wie in einer Nahtoderfahrung, von außen mitbekommt, nur ein paar glückliche letzte Sekunden lang kommunizieren sie miteinander, als wär’s ein Traum von einer glücklichen Gegenwart. Kurz vor ihrem Tod vereint sie noch, er weiß es nicht, weil er sie nicht sieht, den zunächst widerstrebenden Alfredo mit der „pudica vergine“, mit der neuen Freundin, die mit Alfredo am Sterbebett seiner denn doch nicht ganz „Verflossenen“ erschienen ist – eine jener bewegenden und im besten Sinne menschlichen Handlungen, die die Inszenierung nicht allein zu einem Exempel für die menschliche Bosheit machen. Die todkranke Violetta stirbt, dann stirbt auch die singende VIoletta. Zurück bleiben die treuen Freunde, die sie, und wie auch?, nicht vor den tödlichen Angriffen aus dem anonymen, aber präsenten Netz schützen konnten.

Foto (c) Pedro Malinowski / Staatstheater Nürnberg
Klingt das nicht alles, mag man und Frau fragen, etwas billig, weil zu naheliegend, ja platt? Spätestens seit dem Pelicot-Prozess, dessen Ende nun genau ein Jahr zurück liegt, und in dem Dutzende von Vergewaltigern einer chlorophormierten Frau verurteilt worden sind, muss man die Frage leider verneinen. Die Tatsache, dass einer der Verurteilten nun eine Revision beantragte, weil er angeblich nicht davon ausging, dass die Vergewaltigte einvernehmlichen Sex haben wollte, wird man die Fragen doppelt verneinen müssen – nicht, dass alle Männer Vergewaltiger sind, wie manche Frauenrechtlerinnen meinen (sie sind es so sehr wie ausnahmslos alle Frauen potentielle Mörderinnen sind), aber die Gewalt, die durch die asozialen Medien zusätzlich in die Welt kam, hat das das Zeug, auch eine Violetta von Heute zu erklären. In diesem Sinne hat der Ruf nach den „Freuden“ des Lebens, also nach einem durchaus harmlosen hedonistischen Vergnügen, wie es die liebenswerten Freundinnen und Freunde Violettas als Partygänger pflegen, nichts Oberflächliches. Andere gehen beispielsweise in die Oper…. Es ist „nur“ der Versuch, die zugefügte Wunde durch ein Leben zu kompensieren, das die Wunde vergessen machen soll – was schlussendlich nicht gelingt.
Um diese Lesart auf die von Martin Hickmann entworfene, einfach strukturierte Bühne zu bringen, hat Lanzino zusammen mit dem Dirigenten Björn Huestaege die Partitur etwas eingedampft, was manch musikalischen und dramaturgischen Bruch erklärt. Sie hat die Auftritte der „kleinen“ Figuren gestrichen, die im zweiten Akt als Boten dienen, doch tritt Annina nun bereits in der Partygesellschaft des ersten Akts auf die Szene. Die Produktion wurde durch und durch, also bis in die kleinsten Rollen ausgezeichnet ausgestattet. Und die drei Hauptrollen? Sie wurden glänzend besetzt. Der alte Germont ist Sangmin Lee, dessen Bassbariton so wohltönend klingt, dass wir ihm sein Gutsein im objektiven Bösesein sofort abnehmen; kein Wunder, dass er selbst an die Komödie glaubt, die er an Violettas Sterbebett aufführen will. Sergei Nikolaev hat sich zu einem erstrangigen italienischen Tenor entwickelt, der Emphase und Stimmkontrolle, Ausdruck und Technik, Dynamik und Subtilität unter einen vokalen Hut gebracht hat; sein Alfredo ist also äußerst hörenswert. Die Königin des Abends aber, die am Ende jede Menge Beifall einheimst, während es dazwischen, und das ist gut so, kaum Szenenapplaus gab, was die Anlage der düsteren Inszenierung wie der bewusst nicht auftrumpfende Schluss von manch Arie von selbst verhinderte – die Königin des Abends heißt Elisa Verzier. Sie spielt und singt eine zerbrechliche junge Frau, keine Heroine des Schicksals. Sie entzückt uns durch ihre piano-Töne und die zerbrechliche Leidenschaft, die sie ihrer Figur mitgibt. Die Staatsphilharmonie Nürnberg gibt dazu den rechten Sound ab: nicht im Sinn einer „spritzigen“ Italianitá, sondern durchaus ein wenig deutsch-symphonisch angereichert – nicht aufgebläht. Man hört einfach nur die Zwischentöne, die Streicher und die Holzbläser, die dem herrlichen Grundrhythmus vieler Nummern etwas faszinierend Sensibles und Farbiges beimischen. Und der Chor des Staatstheaters, ohne den das Drama der Violetta nicht funktionieren würde, singt, last not least, unter seinem Leiter Tarmo Vaask wieder so betörend und charakterscharf, dass man den Sängerinnen und den Sängern gern alle Gemeinheiten verzeiht, die sie als Figuren dem Opfer des Abends antun.
Ein festlicher Abend? Wenn man „Fest“ als ein intensiv-intelligentes und bewegendes Opernerlebnis definiert, war’s einer.
Frank Piontek
