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Durchaus nicht von gestern

OperDurchaus nicht von gestern

Eröffnung der Gluck-Fespiele: Glucks La Clemenza di Tito

1988 meinte der Musikwissenschaftler Reinhard Wiesend, dass sich „das heutige Theater“ kaum für die Gattung der Opera seria interessieren könne. Es sei ja kein Zufall, dass zwei Jahre zuvor die Cleofide nur konzertant aufgeführt worden sei. Und weiter: „Ohne Übertreibung darf man in der Opera seria eine zu Recht überlebte Gattung sehen.“ Würden Werke dieses Genres aufgeführt, manifestiere sich „eine gewisse Ratlosigkeit der Ausführenden oft genug in extremen, verfremdenden Inszenierungen“ oder – man muss den Satz mit den Anführungszeichen auf der sprichwörtlichen Zunge zergehen lassen – die Aufmerksamkeit verlagere sich „auf die Art der Darbietung der Musik in einer ‚historischen‘ Aufführungspraxis“.

Ach, diese früh alt gewordenen „musikwissenschaftlichen“ Theoretiker… Die Opera seria ist längst im Repertoire der großen und kleinen Häuser, nicht allein der Spezialfestivals für besondere Komponisten angekommen und steht nicht länger unter Verdacht, eine tote Gattung zu sein. Szenische und konzertante Aufführungen sind alles andere als selten; in Bayreuth sorgen gleich drei Festivals (Bayreuth Baroque, Musica Bayreuth und alle paar Jahre das Gluck-Festival) dafür, die einzige Gattung der Operngeschichte, die als Gattung definiert werden kann, dorthin zu bringen, wo sie hingehört: auf die Bühne, genauer: auf die Bühne des Markgräflichen Opernhauses. Das macht: die tiefe Emotionalität der Musik und Affektgestaltungen, die Hintersinnigkeit manchen Librettos, die „Zeitlosigkeit“ der Empfindungen und Verhaltensmuster, die aus den erst seit dem 19. Jahrhundert als Puppen gescholtenen Figuren Menschen machen.

So also wurden die Gluck-Festspiele 2024 mit einer konzertanten Aufführung der Oper La Cle menza di Tito eröffnet, die der 38jährige Komponist in Neapel herausbrachte. Ein Erfolg, denn das Werk verschwand nicht sogleich in der Versenkung. Der musikalische Leiter des Abends, Michael Hofstetter, meinte, dass Glucks Partitur über das rein Musikalisch hinaus ginge. Er forsche „hinein in den Seinsgrund der menschlichen Seele“. La Clemenza di Tito beschreibe Innenwelten, sei gleichsam ein auskomponierter Humanismus (genau hierzu passte die Eröffnungsrede). Man könnte lange darüber streiten, ob Glucks letzte große Frühoper ein besonders prägnantes Beispiel einer individuellen Ton-Innen-Sprache und eines zeitenthobenen Humanismus ist, aber wenn selbst die Gluck-Kennerin Anna Amalie Abert vor über 60 Jahren behauptete, dass Gluck wenigstens bei den Hauptpersonen versucht (!) habe, „den blassen metastasianischen Typen Leben einzuhauchen“, muss etwas dran sein, auch wenn viele der 23 Arien, von denen am Abend 18 gesungen werden, nicht besser und nicht schlechter als die Arien eines Hasse oder Porpora klingen; vom Giganten Händel, der 1752 noch Oratorien komponierte, schweigen wir jetzt einmal. Sie aber waren Meister darin, innerhalb eines vorgegebenen Arientext- und Secco-Rezitativ-Rahmens ein Höchstmaß an Affektbeschreibung zwischen höchster Wut und tiefster Niedergeschlagenheit in Musik zu setzen – was nicht unbedingt mit einer besonders ausgefeilten Psychodramaturgie einhergehen muss. Gewiss: Man kann jede Koloratur, die der Komponist für die geläufige Gurgel eines standesbewussten Sänger und ein vergnügungssüchtiges Publikum schrieb, für den Ausdruck einer emotionalen Expression halten – doch man muss es nicht. „Aber“, so Abert weiter, „sowohl die Koloraturgesänge als auch der ganze Zauber des Belcanto, den Gluck in dieser Oper mit Rücksicht auf sein italienisches Publikum in verschwenderischer Fülle beschworen hat, treten nirgends nur um ihrer selbst willen auf, sondern stets im Dienste größerer dramatischer Zusammenhänge.“

Um dies zu belegen, bedarf es freilich eines Ensembles, das jene Verinnerlichung ins Heute zu tragen vermag. Mit den Sängerinnen, Sängern und Musikern der Eröffnung der Gluck-Festspiele hat die Intendanz tatsächlich das Richtige getroffen. Publio, der Geradlinige, heißt am Abend Hannah Theres Weigl; sie erfüllt den kleinen Part mit vitaler Kraft und stimmlicher Eleganz, so dass man es bedauert, dass der notwendige Berater des Kaisers, der in der Regel nur wenige dramatisch unbedeutende Gleichnis-Arien zu singen hat, nur zweimal, mit dem Choreinsatz dreimal in Erscheinung tritt. Großartig ist die Expressivität Bruno de Sás, der als Sesto, der Zerrissene, durch seinen ultraseltenen Stimmtypus „Sopranist“ und seine wahrlich geläufige Gurgel in seinen ausladenden Bravour- und Empfindungsarien mit der Brillanz eines Cafarelli hätte konkurrieren können und zugleich die tiefe Emotionalität der lyrischen Emphase ausdeutet. Aco Biščević singt nicht die Hauptrolle – von der Wertigkeit der Figur und der Anzahl der Arien ist dies eindeutig die Vitellia – sondern den Titus: pur rollendeckend. Denn mit seinem zwar eher deklamatorischen als belcantistischen Ton gibt er seiner Stimme eine Klangfarbe und einen Ausdruck, der vollkommen zum Clementia-Wahn des Protagonisten passt: der gute Mensch von Rom, der lediglich in einer Zorn-Arie seinem Unmut über die Untreue seiner Lieben Ausdruck gibt. Fantastisch schön: Die Servilia der Robyn Allegra Parton. Was diese Figur an Sanftmut und innerlicher Leidenschaft mitbringt, wird von der Sängerin stimmrein und bewegend realisiert. Gleichermaßen beifallprovozierend: Maria Hegele als Annio, der Geliebte der Servilia, der zurecht ein Paar mit ihr bildet, weil auch er, dargestellt durch eine Sie, die Töne des Leidens und der stillen Emphase so bringt, dass zwischen 1752 und 2024 eine feste Brücke geschlagen wird. Die Hauptfigur, die die Verschwörung ins Rollen bringt, heißt Vitellia; sie wird gesungen von Vanessa Waldhart, die ihre Ausdrucksmittel im Lauf des Abends steigert: eine empfindsame Rachefurie, deren lang ausgehaltene Spitzentöne schließlich natürlich begeistern. Sie hat das gattungsmäßig wohl interessanteste Stück der Oper zu singen: „Come potesti, oh Dio!“ ist eine jener Arien, die das Schema der Dacapo-Form aufbrechen, indem die Affektwechsel hier nicht innerhalb der A- und B-Teile, sondern auf engstem Raum erfolgen. Der Riss, der durch die Frau geht, die zugleich sich und den ihr verfallenen Sesto anklagt, geht auch durch die Struktur der Arie – das zu hören ist schon erregend.

Also: Eine Opera seria ist eine Opera seria ist eine Opera seria? Man wird denn doch wieder nachdenklich. Zwischen den Konventionen der 1752 bereits 30 Jahre alten Gattung, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen war, und Glucks eigenem Ton, der hier und da, in einer Melodie oder in harmonisch faszinierenden „Nebenstimmen“, einer Klangfarbe oder einer Phrase, unüberhörbar ist, verlaufen feinste Trennlinien, die zugleich verbindend sind. Sie zu entdecken obliegt nicht zuletzt dem Barockorchester der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Unter Michael Hofstetter spielen sie einen kräftigen und deliziösen, herzhaft historisch informierten, was heißt: in den Blechbläsern auch mal rauen und in den vielen piano- und mezzoforte-Passagen lieblichen Ton. Historisch informierte Aufführungspraxis, wie der Begriff heute lautet, bedeutet nicht, ein altes Stück alt zu spielen, sondern es mit rekonstruierenden Mitteln so zu bringen, als sei es heute geschrieben worden: so wie in Bayreuth. Man hört, dass schon der junge Gluck routiniert und doch besonders instrumentieren konnte: hier die Flöte, die die junge Liebende begleitet, dort die dunklen Bläser, die die Nachtseiten der Leidenschaften malen. Nein, „erzvandalisch“ ist, nach einem vielzitierten Wort Metastasios, zumindest für unsere an Härteres gewöhnten Ohren die Musik nur an wenigen Stellen. aber dass sie gelegentlich gluckisch und nicht allein operaseriahaft ist: Es war zu beweisen. Und es wurde bewiesen. Es geht auch ohne die kilometerlangen Secco-Rezitative; dafür hat glücklicherweise der Schauspieler Thorsten Danner den leicht launig-informierenden Erzählungstext der Dramaturgin Bettina Bartz gesprochen, ohne den der Abend zu einem Arien-Recital geworden wäre.

Und was ist nun die „Clementia“? Auch das, was einige respektlos-dumme Teile des Publikums schon während der Eröffnungsrede dem idealistisch-spirituellen Redner Anselm Grün nicht gönnten: Gnade, Güte, Nachsichtigkeit. Ein derartiges, zum Fremdschämen bestimmtes Hufescharren, peinliches Räuspern und Gröhlen einzelner Unmilder habe ich in 40 Jahren während keiner Festrede gehört. Die Musik mache, so der Redner, den Menschen besser – am Abend konnte man wieder erleben, dass die seit dem 18. Jahrhundert behauptete These leider falsch ist. Aber dass die Opera seria eine sehr lebendige Gattung ist: das konnte die Eröffnung der Gluck-Festspiele 2024 zweifellos beweisen.

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