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Der Mann, den die Frauen lieben

OperDer Mann, den die Frauen lieben

Verdis „Falstaff“ im Nürnberger Staatstheater

Wie sich die Bilder nur scheinbar von Ferne gleichen: Als vor genau zwei Monaten die Oper am Fenice herauskam, konnten wir auf einen hölzernen Theatergaleriebau der Shakespeare-Zeit schauen, der sich in drei Etagen nach oben ausbreitete. Nun, in Nürnberg, wo im 16. Jahrhundert die sog. Meistersinger-Bühne bestand, über deren Rekonstruktion sich im frühen 20. Jahrhundert die Theaterwissenschaftler buchstäblich die publizistischen Köpfe einschlugen, sehen wir wieder auf einen scheinbar hölzernen Außenraum, der das „Innere des Wirtshauses ‚Zum Hosenbad‘“ – eben nicht andeutet. Nur die Fläche erinnert mit ihrem einschichtigen sandfarbenen, ja: fast farblosen Einheitston ganz von Ferne an jenes historisierende Theater, das im November in Venedig zu sehen war, wo „Falstaff“ in einer schön spektakelhaften Neuinszenierung auf die Bühne kam.

Es ist alles anders. Natürlich „spielt“ David Hermanns Inszenierung nicht in einer spätmittelalterlich anmutenden Osteria, sondern zunächst auf einer Straße im Außenraum, wo ein Imbiss mit dem geschmackvollen Namen „Kebabking“ den Blick auf sich zieht. Natürlich ist Falstaff nicht, wie sich der kleine Moritz und die kleine Moritzine ihn sich vorstellen, ein Bild nach den Vorbildern des Malers Eduard Grützner, von dem sich der Ausstatter der Mailänder Uraufführung 1890 inspirieren ließ. Natürlich ist Falstaff hier nicht der fette Genusstrinker, wie er in den traditionelleren Inszenierungen der „Lustigen Weiber von Windsor“ und des Königsdramas „Henry IV“ noch in England gespielt werden mag (nichts gegen Orson Welles genial einseitige Darstellung des Philosophen von Eastchip!). Er ist einfach nur – ein älterer, alleinstehender Mann. Und die Straße, der „Weg“, von dem Falstaff in einem seiner ganz bedeutenden Momente spricht (merke: alle Momente sind in diesem Meisterwerk im Sinne Goethes bedeutend, weil dramaturgisch und musikalisch stringent und konzentriert) – die „via“ des Lebens dieses Mannes ist, räumlich betrachtet, die sandfarbene, fast farblose Fassadenstrecke, mit der die Nürnberger Inszenierung anhebt.

Der Traditionalist unter den Zuschauern, der in manch „Modernem“ vielleicht noch stecken könnte, mag zunächst enttäuscht sein. Spätestens in einer großartig inszenierten Szene des zweiten Akts wird klar, welche Funktion diese plane Fläche hat. Die Szene gehört nicht dem Titelhelden, sondern seinem Intimgegner Ford: wenn sich dieser reichlich othellohaft in selbstquälerischen Eifersuchtsphantasien suhlt, flammt die gesamte Bühne plötzlich farbig auf. Dank einer technisch überaus perfekten Videotechnik (Jo Schramm entwarf das Bühnenbild und die dazugehörige Projektion) erstrahlt nun alles millimetergenau in jenen Farben, die wir bei einem Kebabking und diversen Flaschen, bei einer schmutzigen Beton-Fassade und bei Plastik-Mülltonnen erwarten würden. Der Effekt ist überwältigend, überraschend – und hat seinen mehrdeutigen Sinn. Wo vormals die Welt der „Dutzendmenschen“ keine Farbe haben brauchte, weil sie über keine individuelle Kolorierung verfügte, erstrahlt sie plötzlich in jenen Originaltönen, der Ford zu einem persönlich empfindenden Individuum macht – doch zugleich, buchstäblich, zum Affen. Der Videograph zeigt es mit deutlichster Ironie; ein Affe, lediglich eine Fassadenmalerei, hüpft plötzlich über die Fläche. Zu Beginn des zweiten Teils des Abends wird er durch die Tür des Eisernen Vorhangs kommen und am linken Bühnenportal nach oben klettern, um unter dem Dach zu verschwinden.

Eine zweite Farbgebung der farblosen Bühne, in der die Bücher in der Bibliothek der Fords genauso weiß sind wie ihr Auto, wird es am Abend nicht mehr geben. Der „Dutzendmensch“ Ford trägt zwar ein überaus kräftiges Blau zur Schau, aber seine Leute, der gesamte männliche Chor (völlig anders als die weibliche Vokalcompagnie, die unter dem Chorleiter Tarmo Vaask wie üblich blendend gut singt), sind gleichfalls nichts als „blue men“. Nur die Vorstadtweiber von Windsor tragen kräftige, unverwechselbare Farben zur Schau, die aus dem Ganzen von Bühne und Kostüm ein einziges Schauvergnügen machen: Rot (Alice), Grün (Meg), Blaugrau (Quickly) – und ein flirriges Pastell für die junge Nanetta: das macht Sinn. Und wenn Alice sich in die Abenteuer der Verführung des letzten Ritters der Straße macht, wandet sie sich in ein edles, leuchtendes Braun.

Verführung? Wie gesagt: dieser Falstaff ist nicht der Falstaff, über den sich die Frauen lustig machen, oder doch nicht nur. Er ist der Mann, der sich für sie interessiert, was auf eine Art von Gegenliebe stößt, über die sich ein Mr. Ford nur wundern kann. „Obwohl“, so der Dramaturg Georg Holzer im Programmheft der Produktion, „die lustigen Weiber von Windsor ständig betonen, wie alt, fett und hässlich Falstaff ist und wie schlecht er riecht, kann man sich absolut nicht vorstellen, dass sie sich über seine Liebesbriefe nicht freuen.“ Die Inszenierung beglaubigt es, indem sie Falstaff in Liebesepisoden hineinschickt, die tatsächlich „funktionieren“, weil das Wichtigste mitspielt: die Musik. Sie beglaubigt die heißen Annäherungen zwischen der Liebesbotin, dem weiblichen Merkurius Miss Quickly, und dem Kerl, der trotz seines Alters noch mehr Mumm im Liebesknochen hat als ein bürgerlicher Mr. Ford und noch, das ist Komödie pur, im Augenblick höchster Verfolgungsnot nicht auf das Vergnügen verzichtet, den Hintern der quicken Quickly zu tätscheln, ohne mit allzu viel Gegenwehr rechnen zu müssen. Die Musik macht das Interesse Alice Fords an einem Mann möglich, der zwar nicht den gesellschaftlichen Status ihres Ehegatten besitzt, aber sich um sie bemüht; dass es hier auch um die Kasse geht, muss sie ja nicht wissen. Verdi hat Alice zur Hauptfigur seiner „commedia lirica“ erklärt, was insofern richtig ist, als sie die Fäden aller Intrigen knüpft (was neben anderen dramaturgischen Übereinstimmungen den „Falstaff“ zu einem Pendant zum „Figaro“ macht). Hermans macht aus ihr eine frustrierte Ehefrau, die beim Spiel gegen Falstaff nur deshalb mitzumachen scheint, weil sie nur so ihm näherzukommen meint; die Verzweiflung über den Düpierten scheint größer zu sein als die Angst, von ihrem Mann, dem wiedergeborenen Othello, als Ehebrecherin zur Rede gestellt zu werden. Die Schlussfuge wird es in gestellten Einzelbildern bestätigen. Mr. und Mrs. Ford befinden sich im Ehekrieg, weil wir nicht wissen können, ob sich der Eifersüchtige jemals ändern wird, Fenton und Nanetta blüht vermutlich eine glückliche Verliebtheitsphase, Falstaff und Miss Quickly stehen sich lauernd, also mit erotischer Spannung gegenüber (so schnell werden sie sich nicht los) – und Meg Page, die einzige, die sich auf dem Richtblock (!) einzeln präsentiert, zieht die Konsequenz aus ihrer Vorstadtweiberexistenz: sie erschießt sich zielgenau auf den trugschlüssigen Fortissimo-Akkord, mit dem die Schlussfuge gewaltsam unterbrochen wird. Das ist gravierend, aber auch diese Interpretation und individuelle Sicht auf eine Figur, von der schon Verdi bekannte, dass er sie vernachlässigt habe, wird durch die Hauptsache bestätigt. Und Falstaff bleibt, in all seiner zunächst wie zufällig anmutenden Unspektakularität, die meilenweit entfernt ist von aller Falstafferei, ein interessanter Typ, der nicht im Kostüm der Grützner-Zeit auftreten muss, um im Kontrast zur Sorte der „genta dozzinale“ aufzufallen. Mag Claudio Otelli zunächst noch dynamisch und kostümlich unterbelichtet wirken, so muss er nicht aufdrehen, nicht „brillieren“, um seinen noblen Bassbariton zur Charakterzeichnung eines älteren Mannes einzusetzen, der  zu Beginn des dritten Akts in seinem berühmten Meditationsmonolog ein Tetrapack Weißwein aus Fords Swimming-Pool fischt, ansonsten aber dem besseren Stoff vertraut. Außergewöhnlich, ja geradezu bizarr wirkt er allerdings in der Park-Szene. Statt den vorgeschrieben Hirschhelm zu tragen, hat ihn die Ausstatterin Carla Caminati in ein monströses Ganzkörperkostüm gesteckt, das zwischen dem Alpenland, Schwarzafrika und der Südsee bei diversen Volksfesten beste Dienste leisten würde. Natürlich ist‘s absurd, wenn im bürgerlichen Milieu plötzlich „Elfen“ und „Sirenen“ auftreten, um eine musikalisch sublime Variante des „Mittsommernachtstraums“ durchzuspielen, aber Oper ist niemals realistisch; die Bäume stehen für die, die sie vermissen, ein Stock höher, in der Bibliothek. In diesem Fall huldigen – das kann symbolisch und real verstanden werden – die vier Frauen dem archaisch-heidnischen Urbild eines Manns-Bildes, das eben anders ist als alle anderen (men in blue). Das Spiel, das Boito und Verdi entworfen haben, ist ja schon, bei aller überirdischen Schönheit der Elfen-Musik, ein falsches, und doch garantiert gerade es das, zugegeben: bizarre Bild. Dass die Neudeutung unterm Strich klappt, zeigt auch, nach kürzerem Nachdenken, das Aufstacheln der Frauen gegen ihre Männer durch Alice, Quickly und Meg: ihr „Pizzica, pizzica“ richtet sich nicht gegen Falstaff, sondern die Kerle, die den Ritus der Verehrung des Großen Mannes stören.

Also: in Nürnberg stoßen wir auf einen Falstaff, der von den Frauen – vielleicht mit Ausnahme von Meg, mit der der Mann, der die Frauen liebt, sich durchaus in einen „flotten Dreier“ begeben würde – auf bewusst verwirrende Weise ernst genommen wird. David Hermanns hat dieses Beziehungsgeflecht genau durchinszeniert, daher man ihm auch den weißen Plastikstuhl verzeiht, den er aus der Rumpelkammer des Schmodder-Theaters entliehen hat. Mehr ins Gewicht fallen die ungelenk inszenierten Gewalt-Szenen; Bardolf und Pistol singen zwar gut, weil Martin Platz und Nicolai Karnolsky sie spielen, aber besonders inspiriert wirken ihre Aktionen nicht. Dafür entschädigt die scheinbar lustige Meg, die ihren Auftritt in der Wäschekorb-Szene schön überdreht probt – und dann genau so realisiert. Dafür entschädigen die Hand- und Busengreiflichkeiten Quicklys und Falstaffs, auch Nanettas und Fentons. Das Liebespaar behält seine Unschuld und wird nicht dem Verdacht ausgeliefert, dass hier bereits ein bürgerliches Ehepaar vom Schlage von Nanettas Eltern heranwächst. Chloe Morgan und Sergei Nikolaev (als Fenton ist er Hausmeister bei Fords) machen das herzerfrischend, vokal sehr klar und in ihren Liebes-Encores lyrisch ergreifend. Der Papa heißt Samuel Hasselhorn; mit seinem Heldenton verleiht er den Wut- und Verzweiflungsausbrüchen große dramatische Durchschlagskraft, so dass er sogar die Video-Einspielung, die plötzlich den gesamten Bühnenraum dominiert, als Darsteller und Sänger übersteht. An der Spitze aber der Riege stehen die drei Frauen. Corinna Scheurle ist die Meg Page, schön, schlank und agil, eine Dame, zu deren Lieblingslektüren sicher die herumliegende „Vogue“ gehört, wenn sie ihren Kummer des Alleinseins nicht im Alkohol ertränkt. Vernimmt man ihre Einzelstimme im Ensemble, fragt mann sich, wieso sie immer noch solo ist. Almerija Delic ist als Quickly eine in ihren Reaktionen hochinteressante, bewusst komische und gleichzeitig nachdenkliche, sonor und genau artikulierende und eindrückliche Powerfrau, als solche gleichwertig neben der so ganz anders gearteten Alice der Emily Newton. Newton bringt ihren flackernden sensiblen Sopran in die Szenen einer Ehe hinein, um aus der Strippenzieherin eine ihrer Sachen durchaus nicht sichere Frau auf der Suche zu machen. Spannend!

Zunächst weniger spannend, dafür eher präpotent, wirkt der orchestrale Beginn des Abends. Das Vorspiel dröhnt ins Haus hinein, die dynamisch brutalen Spitzen sind der Akustik des Hauses geschuldet, in der ein piano kaum möglich ist und ein forte, wird es sforzato gebracht, schlichtweg detoniert. Die Staatsphilharmonie Nürnberg kann unter Björn Huestege für derlei Ungebärdigkeiten kaum etwas; dafür muss man für die Dezenz dankbar sein, die zumal in den Elfen-Szenen das musikalische Rückgrat der Partitur bildet. Die Staatsphilharmonie Nürnberg verfügt zudem über Solisten, die sich, gerade in dieser Partitur, im besten Sinne hören lassen: so wie der gesamte Abend, der scheinbar nüchtern begann, um mit Hilfe seiner charaktermäßig gedeuteten Protagonisten und ihrer Interpreten ein Welttheater in nuce zu zeigen, das, wie Verdi gesagt hätte, die Wirklichkeit neu erfand, weil die Vorlage, die der Librettist und der Komponist vor bald 140 Jahren erfanden, immer noch zum Nachdenken – und zum Freuen über so viel Spiel-Raum provoziert.

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