Claudine Orloff & Burkard Spinnler: Marie Jaëll, Franz Liszt, Camille Saint-Saëns

Jaëll – hört der informierte Musikfreund, der sich zudem gut bei Wagner auskennt, den Namen, denkt er gewöhnlich an Alfred. Alfred Jaëll war, als Pianist, ein exzellenter Wagner-Bearbeiter – und mit jener Frau verheiratet, die nun durch eine neue Bayreuther CD-Produktion in die Charts kam. Aufgenommen wurde sie auf einem Steingraeber-Flügel, und eines der Stücke erklingt zweimal: auf dem neuen Piano – und auf dem berühmten „Liszt-Flügel“, der 1878 und 1882 nach den Anweisungen des Meisters nicht gebaut, aber eingerichtet wurde. Ehemals (Jadis) aus dem Weihnachtsbaum-Zyklus erklingt also gleich zweimal, aber was hat Liszt mit Jaëll (Marie) und Saint-Säens zu tun? Oho, eine ganze Menge, wie Samuel Beckett geschrieben hätte. Denn Marie Jaëll war eine Schülerin Liszts, lebte einige Zeit in Weimar und war sekretärinnenmäßig für ihn tätig. Über Bayreuth sind sie alle miteinander verbunden, denn der Bayreuth-Besucher Saint-Saëns, bei dem sie auch Unterricht nahm, spielte während der ersten Festspiele 1876 zusammen mit Liszt die vierhändigen Walzer der Komponistin: so wie nun Claudine Orloff und Burkard Spinnler, die mit den 13 Klavierköstlichkeiten einen schönen Fund gemacht haben. Liszt machte, wie üblich, ein paar höfliche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, die die junge Frau denn auch annahm, bevor sie die Walzerfolge 1877 publizierte. Nun kann man die charmanten, durchaus nicht banalen, sprudelnden wie melancholischen Gebilde aus dem Salon des 19. Jahrhunderts wieder hören: als Hommage an eine gute Komponistin und ihren verständnisvollen Lehrer und Mentor. Angefügt: Sechs Voix du printemps. Die Frühlingsstimmen von 1885 enttäuschen nicht die Erwartungen, die sie vorher angelegt hatte – und ergänzend zum Hauptteil des dramaturgisch wohlüberlegten wie musikalisch reichen Konzept-Albums wurden vier direkt mit Jaëlls Walzern zusammenhängende Nummern aus Liszts Weihnachtsbaum (komponiert für seine Enkelin und Wagners Stieftochter Daniela von Bülow) und zwei schöne, gleichfalls mit Liszt und der Jaëll zusammenhängende Petitessen von Saint-Saëns, ein Duettino und ein Albumblatt, eingespielt. Man wäre gern dabei gewesen, als die beiden Herren die Werke der Marie Jaëll in Bayreuth zum Besten gaben, aber die kultiviert artikulierte Einspielung bietet mit ihren Perlen von Begleitstücken eine ausgesprochen gute Ahnung von dem, was uns im Bayreuth des Jahres 1876 entgangen ist.

Claudine Orloff & Burkard Spinnler: Marie Jaëll, Franz Liszt, Camille Saint-Saëns. Cypres 2628, 2024

Frank Piontek