16. April 1844
Unser eigener Winter war sehr belebt, und wie natürlich, durch Felix musikalisch interessant. Die Abonnementsconcerte waren ungemein schön und interessant, in dem letzten am 27. März kam die 9te Symphonie von Beethoven, die Chöre von Dilettanten besetzt, die ganz vorzüglich sangen, die ganze Aufführung war vortrefflich, und ich kann wohl sagen, so musikalisch glücklich habe ich mich selten gefühlt. Das ganze riesenhafte Werk war mir so klar und faßlich, das es ein wahrer Genuß war. – Felixens Wirksamkeit im Dom1 hat gar manche Hemmung und Widerwärtigkeit erlitten, namentlich von der Geistlichkeit ausgehend, die Psalmen mit Orchester nicht leiden will, und darin wahrscheinlich von Grell2 angeleitet wird, der Felix wohlmöglich ins Pfefferland wünschte. Ich glaube die Sache stand zuletzt sehr kippelig, so wie ich überhaupt weit entfernt bin, sein Verhältniß hier für ein dauerndes zu halten, so jammerschade es wäre, wenn es sich wieder änderte, denn ich bin durch sein Hiersein zu glücklich gewesen. Auch mit den Concerten hat er manche Widerwärtigkeit zu bekämpfen gehabt, teils durch den Widerstand, den seine Einführung des Gesanges, erst beim Comité, dann bei Rellstab3 und folglich bei der ganzen Publikum Heerde gefunden hat, die natürlich springt, wenn der Leithammel einen Sprung gethan. Zuletzt häuften sich die Proben, indem zugleich die 9te Symphonie, und Israel4 einstudiert ward, das letztere zur Aufführung in der Garnisonskirche‚ am 31. März, mit Orchester und Orgel. Um letzteres benutzen zu können, war ein großes Gerüst aufgeschlagen worden, welches stehen bleiben soll, und wieder großen Widerspruch bei der Geistlichkeit erregt hat, so daß Felix, als geistlicher Großwürdenträger, mit der Hierarchie in beständigen Conflict gerieht. Die Aufführung war sehr schön, dies tiefsinnigste Händelsche Oratorium in den Proben öfter zu hören, war mir ein schöner Genuß, ich hätte es nur gern noch viel öfter gehört. Im Ganzen so viel Anerkennung und Liebe, ja bei Einzelnen Begeisterung Felix auch hier gefunden hat, so kann man doch Nicht sagen, daß das hiesige Publicum, unselbständig, kalt und kritisch wie es ist, ihm mit solcher Hingebung anhinge, wie in Leipzig.
Meine eigenen Sonntagsmusiken haben im Herbst bis Weihnachten, und im Frühjahr bis zu den Osterproben gedauert. Felix war mir in aller Weise dabei behülflich und äußerst liebenswürdig, hat auch einmal 2 Tage ununterbrochen an 4händ. Variationen gearbeitet, die ich sonntags mit ihm spielte, und selbst Vergnügen an diesen Concerten gehabt. Die Zwischenakte zum Sommernachtstraum haben wir unendlich oft, und wo wir nur zusammen waren, spielen müssen. Die Geselligkeit war sehr lebendig, mit interessanten Abenden bei Massow, Decker etc. Zweimal war auch bei uns Gesellschaft und nach dem 3tenmal ein nettes Souper.
Im öffentlichen Leben giebt es nicht viel Erfreuliches. Ungeheure Actienschwindelwuth für Eisenbahnen, namenlose Noth der schlesischen Weber, der jetzt auf alle Weise zu steuern versucht wird, Grimms Erklärung in öffentlichen Blättern, das Hoffmann von Fallersleben ihnen an ihrem Geburtstag ein unwillkommner Gast gewesen, Versuche auf allen Universitäten zu einem gemeinsamen Verkehr mit Karzer und Consilium bestraft. Im Auslande, ganz Italien ist im Aufruhr, die wunderbare griechische Revolution, in deren Folge alle Deutsche zur Auswanderung gezwungen wurden, in der Türkei die grössten Greuel an den Christen verübt, Rußland russischer als je, das ist das im Ganzen höchst unerfreuliche Heute.
Fanny Hensel (1805-1847) war die ältere Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sie war eine hochbegabte Komponistin, Pianistin, Dirigentin und Konzertorganisatorin. Ihr kompositorisches Schaffen umfasst über 460 Werke. Eine musikalische Karriere und Veröffentlichungen ihrer Werke zu Lebzeiten waren ihr, ganz im Zeichen dieser Epoche, von der Familie weitgehend untersagt worden. In Berlin schuf sie im Gartensaal des Anwesens ihrer Familie mit ihren Sonntagsmusiken und Akademien eine semiöffentliche Veranstaltungsform, in der sie sowohl solistisch mit eigenen Werken auftrat und auch andere Werke spielte oder dirigierte. 1829 heiratete sie den Hofmaler Wilhelm Hensel, der ihre Musikausübung, soweit es gestattet war, unterstützte.
1Berliner Dom 2August Eduard Grell, Direktor der Singakademie, Berlin 3Ludwig Rellstab, Journalist, Musikkritiker und Dichter 4”Israel in Ägypten“- Oratorium von Georg Friedrich Händel.
Textauswahl: Stephan Jöris