Bildschön, bewegend – und durchdacht
Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen 2024
Foto (c) Enrico Nawrath
Sie schauen, buchstäblich, in ein katastrophisches Loch. Sie erzählen sich ihre Geschichte – und sie wissen, dass ihnen, wie es bei Kleist heißt, „auf Erden nicht zu helfen ist“.
Sie: das sind Camilla Nylund und Andreas Schager. Er ist ein Held, der keiner sein will: ein Depressiver, der um sich kreist und Isolde als Handlangerin des Todes missbraucht, während er doch auch unendlich zärtlich zu ihr sein kann, sie ist eine wütende Heroine, die auch im zweiten Akt nichts von ihrer Eigenständigkeit und Willenskraft verloren hat. Der Regisseur Thorleifur Örn Arnasson hat das Geschehen zusammen mit seinem Ausstatter Vytautas Narbutas in einem surrealen Raum verortet, wo er seine Opernmenschen durchaus realistisch handeln – und sterben lässt. Nichts von „Erlösung“. Stattdessen schlucken die Beiden, zeitlich versetzt und so nicht von Wagner vorgesehen, aber dramatisch eindeutig motiviert, den Todestrank, nachdem sie sich und den / die Andere(n) endlich erkannt haben. Arnasson hat besonderen Wert auf genau gezeichnete Personenbeziehungen gelegt; wer genau hinschaut, auch ins dunkle Goldlicht mancher bodenumnebelter Szene, wird viele Nuancen entdecken, die aus diesem „Tristan“ ein spannendes Kammerspiel machen. Bis hin zu Isoldes Ohrfeige für den um sich kreiselnden, latent narzisstischen Mann können wir das Drama, das diese beiden Menschen miteinander haben, entschlüsseln, wenn auch nicht jedes Wort, das Isolde auf ihr Kleid schreibt, als könnte sie den Liebesverrat Tristans mit einer Schreibtherapie erledigen. Das Kleid spielt, wie alle Hauptelemente dieser Inszenierung, noch im letzten Akt eine Rolle. Dies ist eine der Stärken der Inszenierung: dass diese Elemente wie wagnersche Erinnerungsmotive verwendet werden.
Nichts ist hier unsinnig, nichts willkürlich, aber alles nachvollziehbar: auch mit der Musik. Jedes Ding hat, wie die Objekte des Tages im kaputten Schiffsbauch der zurückgelassenen Welt des „Heldentums“ und des „Ruhms“, seine Bedeutung. Nein, es ist kein Antiquitätenladen, auch keine Müllhalde. Es ist, im deutlich symbolischen Raum, mit Wagner gesprochen, eine surreale, sublime Rumpelkammer, deren Teile Stück für Stück Bedeutung haben, um im letzten Akt zu Tristans letzter Ruhestätte zu gerinnen: als letzte Erinnerung an die ruinierte Welt, aus der der gemütskranke Tristan entfliehen will, vielleicht auch muss.
Jedes Kostüm, jeder Gang, ist hier wirklich, ja: hat Anteil an dem schmerzhaften, keine Lösung zulassenden Drama, das die beiden Titelfiguren sich im zweiten Akt ins Gedächtnis zurückrufen, bevor sie – auf dem Höhepunkt ihres Duetts – bereit sind, sich gemeinsam zu töten. Unio mystica? Nein, diese Figuren sind Opfer von Dispositionen und Handlungen einer Geschichte geworden, über die sie kaum eine Verfügung haben – genau diese (Vor-)Geschichte aber steht im Mittelpunkt ihres Gesprächs. Der Vorhang zu und keine Frage offen – aber Isoldes „Liebesverklärung“ (wie Wagner den „Liebestod“ nannte) wirkt denn doch sehr stark, sehr emotional, sehr berührend. Camilla Nylund ist eben eine der wunderbarsten Isolden der Gegenwart: lyrisch gefärbt, aber dramatische, fast rezitativische Ausbrüche immer wieder erlaubend. Und Schager ist ein Tristan, der eher forciert, aber in entscheidenden Momenten zu jenen leisen Tönen fähig ist, über die das Tristan-Drama in Fülle verfügt.
So gelang eine bildmächtige, die Metapher des Schiffs aufnehmende Inszenierung, die, abgesehen von den obligatorischen Bayreuther Premierenbuhrufen, vom Publikum einvernehmlich bejubelt wird. Semyon Bychkov leitet das Orchester der Bayreuther Festspiele sicher durch Tristans und Isoldes letzte Lebensfahrt. Das klingt eher zart, wogend und logisch wie ein Traum als wie eine dramatisch exaltierte Psychostudie, aber es passt, was erregte wie gleichzeitig kontrollierte Forte-Explosionen nicht ausschließt, sondern legitimiert.
Bayreuth hat also einen neuen kurzweiligen, dramaturgisch durchdachten und bildschönen „Tristan“ bekommen, der sich sehen – und hören lassen kann.
Frank Piontek